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[An Ottla Kafka]

[Stempel: Liboch - 20. II. 19]
 


Liebste Ottla, zunächst sehe ich aus dem letzten Briefumschlag, dass Deine Buchführung wieder in Ordnung ist. Das vorletzte Kouvert trug nämlich die Nummer 17, also eine offenbare Verwechslung der Konti. Das sollte nicht vorkommen.

Das Äußere der Vorträge habe ich mir nicht anders vorgestellt, als Du es beschreibst, allerdings hatte ich angenommen, dass der Vortragende gewöhnlich anwesend ist. Unter den Themen hast Du glaube ich gut gewählt, führ es nun aber auch aus. In Deinem Brief schwimmt der Vorsatz, es zu tun, schrecklich unsicher herum, jeden Augenblick glaubt man, er ertrinkt endgültig. Und ich wäre so stolz auf Dich, wenn Du es machen würdest. Und wenn Du es machst, gelingts auch das ist sicher. Allerdings müßtest Du Dich sehr viel damit beschäftigen, das könnte aber zum größten Teil ganz gut auf Spaziergängen geschehn. Als Vorbild für den Vortrag nimm Dir statt der Redeübung in der Schule lieber die Vorträge im Verein, der wirlich eine ausgezeichnete Einrichtung zu sein scheint. So ausgezeichnet allerdings, dass er auch Stellen vermittelt, scheint er aber nicht zu sein. (Nebenbei: dieses überschriebene "aber" ist ganz interessant, es ist offenbar wie auch das Mit-Bleistift-schreiben eine Nachahmung Deiner Art, so wie ich schon früher z. B. in Deinen Briefen Wendungen gefunden habe, die sich auffällig oft wiederholten von Brief zu Brief und, trotzdem sie ganz gutes Deutsch waren, doch und besonders in ihrer Wiederholung ungewöhnlich und fast gesucht klangen, nicht das ausdrückten, was sie sagen wollten und doch einen guten, sichern, bloß nicht auffindbaren Untergrund hatten. Eigentlich habe ich es erst bei Deinem vorletzten Brief erkannt, dass es ganz gewiß Übersetzungen aus dem Tschechischen sind und zwar richtige Übersetzungen [nicht so wie letzthin einmal der Vater dem Herrn D. von irgendjemandem erzählte, mit dem er "na přátelské noze stojí"] die sich aber das Deutsche aufzunehmen weigert, allerdings soweit ich, ein Halbdeutscher, es beurteilen kann).

Das Inserat in der Zeitung ist freilich nicht schön, es stört geradezu mein Weltbild, nun wäre man also einer Adjunktenstellung seinen Kenntnissen nach würdig, also für die Welt unentbehrlich, kann aber keine Arbeit bekommen. Damit stimmt ja übrigens auch überein, dass in unserer Anstalt, soviel ich weiß, 2 Beamte sind, die früher Adjunkten waren (der Romeo und noch ein anderer ganz ausgezeichneter Mann) und dass beide glücklich sind, Beamte geworden zu sein, während man doch sonst viel eher, schon aus Redegewohnheit, jeden Tausch beklagt. Dagegen ist allerdings zu halten, dass der Adjunkt des Hausfreunds ein sehr fröhlicher Mann war und bis heute Adjunkt geblieben ist. Schließlich ist dagegen auch die "Bodenreform" zu halten. (Das Buch von Damaschke haben sie bei Euch nicht?)

- Eben habe ich vor meinem Balkon ein landwirtschaftliches Gespräch gehört, das auch den Vater interessiert hätte. Ein Bauer gräbt aus einer Grube Rübenschnitte aus. Ein Bekannter, der offenbar nicht sehr gesprächig ist, geht nebenan auf der Landstraße vorüber. Der Bauer grüßt, der Bekannte in der Meinung, ungestört vorbeigehn zu können, antwortet freundlich: "Awua". Aber der Bauer ruft ihm nach, dass er hier feines Sauerkraut habe,der Bekannte versteht nicht genau, dreht sich um und fragt verdrießlich: "Awua?" Der Bauer wiederholt die Bemerkung. Jetzt verstehts der Bekannte, "Awua" sagt er und lächelt verdrießlich. Weiter hat er aber nichts zu sagen, grüßt noch mit "Awua!" und geht. - Es ist hier nicht viel zu hören vom Balkon.

Wie willst Du den Posten suchen und warum mußt Du vorher mit der Mutter sprechen? Ich verstehe das nicht ganz. Daß Du gelegentlich einer aus andererm Grund zu machenden Prager Reise mit der Mutter darüber sprechen würdest, könnte ich verstehen. Auch dass der Vater immer gut gelaunt ist, wäre noch kein großer Grund, besonders da es wahrscheinlich nur ein Gerücht ist. Ich bleibe zumindest noch 3 Wochen hier, solange mein neuer Urlaub reicht, werde also nicht in Prag sein. Jedenfalls könntest Du aber in Prag die gleichen Leute abgehn, bei denen Du wegen der Schule warst. Also Herrn Klein, der Dich vielleicht dem Herrn Zuleger vorstellen könnte, dann Herrn Oberinspektor (Smichow Žižkagasse 30) dann Deinen Landeskulturratsfreund.

Das Buch ist sehr verlockend, aber schick es mir nicht her. Vor 8 - 10 Tagen bekäme ich es nicht, in 3 Wochen bin ich wahrscheinlich in Prag und außerdem habe ich merkwürdigerweise hier wenig Zeit. Außerdem kann ich nicht viel von Büchern erwarten, viel mehr von einer Schule, am meisten aber von Not, vorausgesetzt dass man noch Kraft hat, dort wo es nötig ist ihr zu widerstehn. Aber laß das Buch, wenn Du kannst, in Prag für mich liegen. Ist es denn besser als der "Pflug"? Und sind nicht vielmehr alle diese Bücher ausgezeichnet, wenn sie von ausgezeichneten Schülern in die Hand genommen werden?

Daß Du Maxens Bemerkung lange nicht aus dem Kopf bekamst, wundert mich eigentlich. Es ist doch keine fernliegende, sondern eine selbstverständliche Bemerkung, die Du doch selbst schon tausendmal gemacht haben wirst. Daß Du etwas außerordentliches tust und dass das Außerordentliche gut zu tun eben auch außerordentlich schwer ist, weißt Du. Vergiß Du nun aber niemals die Verantwortung so schwerern Tuns, bleibst Dir bewußt, dass Du so selbstvertrauend aus der Reihe trittst, wie etwa David aus dem Heer und behälst Du trotz dieses Bewußtseins den Glauben an Deine Kraft, die Sache zu irgendeinem guten Ende zu führen dann hast Du - um mit einem schlechten Witz zu enden - mehr getan, als wenn Du 10 Juden geheiratet hättest

Franz




Deine Buchführung: Kafkas Bemerkung bezieht sich darauf, dass Ottla ihre an David gerichteten Briefe auf der Rückseite des Kuverts numerierte.


die Vorträge im Verein: Die Landwirtschaftliche Winterschule in Friedland veranstaltete für die Bauern der Umgebung Vorträge, die Ottla besuchte.


dieses überschriebene "aber": Kafka hatte aus "allerdings" verbessert. Zu Ottlas Briefstil vgl. KO 430 f.


das Mit-Bleistifl-schreiben: Vgl. den Editionsbericht und einen undatierten, an Ottla und Franz gerichteten Brief der Mutter, in dem sie sich dafür entschuldigt, dass sie mit Bleistift schreibt: Ursache sei die viele Arbeit im Geschäft. "Es soll aber für Dich l. Ottla kein Vorwurff sein, es ist nur eine Entschuldigung."


dem Herrn D. : also Josef Davids Vater; die tschechische Wendung bedeutet: "auf freundschaftlichem Fuße steht"; Kafka meint, die wörtliche Übersetzung dieser deutschen Redewendung ins Tschechische sei unrichtig, weil ein grober Germanismus.


"na přátelské noze stojí": "auf freundschaftlichen Fuß steht".


Awua: Die deutschen Bauern in Schelesen sprachen offenbar eine für den dialektfreien Städter Kafka ganz unverständliche Mundart (vgl. Br 169 und 187). Der Hinweis auf das Interesse des Vaters an diesem Dialog ist natürlich ironisch gemeint (vgl. den Schluß von Nr. 88 und H 188, wo Hermann Kafkas dezidiertes Nichtinteresse an einfachen Leuten belegt ist).


Ich verstehe das nicht ganz: Ottla schrieb am 16. II. 1919 an David: "Nach Prag fahre ich, das habe ich schon sicher; Mutter schrieb mir zurück, ich solle nur kommen. Das Fräulein schreibt, dass Vater jetzt immer fröhlich ist, dass er mir nicht böse sein wird. Und dann muß ich mit Mutter sprechen, bevor ich anfange, eine Stelle zu suchen. Ich freue mich auch, dass der Onkel sich für unsere Sache interessiert, dadurch wird es doch leichter sein. Ich kann mir aber nicht vorstellen, dass es uns so schnell gelingen würde, darum glaube ich, dass eine Stellung für mich notwendig sein wird. In Prag habe ich außerdem viel zu tun, ich brauche dort verschiedene Dinge." David war für Ottla eher ein Grund nicht zu fahren. Sie befürchtete, dass ihre Anwesenheit ihn in seinen Vorbereitungen auf eine Prüfung stören würde. Vgl. Nr. 69, 71, 54 und die Anmerkungen zu Nr. 38.


Herrn Klein: Vgl. die Anmerkungen zu Nr. 61.


hier wenig Zeit: Dies und das Folgende bezieht sich darauf, dass Kafka Anfang 1919 in Schelesen Julie Wohryzek kennenlernte, die er dann im Herbst dieses Jahres heiraten wollte. Vgl. K. Wagenbach, Julie Wohryzek, die zweite Verlobte Kafkas, in: J. Born u. a., Kafka-Symposion, Berlin (1965), S. 39 ff. und die Anmerkungen zu Nr. 75.


Maxens Bemerkung: In ähnlichem Sinn äußerte sich die Mutter am 1. XII. 1918 über David: "Er hat auf uns den besten Eindruck gemacht, jedoch kann ich nicht leugnen, dass er uns sehr fremd vorgekommen ist und man sich erst an seinen Verkehr gewöhnen muß. Er ist sicher ein sehr braver und intelligenter Mensch, jedoch hat der Vater verschiedene Bedenken, erstens der kleine Gehalt, dann die Religion, nun hoffentlich wird alles gut werden. Wir wollen ja nichts Anderes, als Dich glücklich zu sehen." (Vgl. Nr. 72) Kompliziert wurden die Verhältnisse natürlich durch die von nationalistischen Tschechen (eine Richtung, zu der David sicher zu rechnen ist, vgl. die Anmerkungen zu Nr. 90) provozierten antisemitischen Ausschreitungen nach dem 1. Weltkrieg. (Vgl. Nr. 62, 91, M 244, 248 und ein an David gerichtetes Schreiben Ottlas vom 14. X. 1918, in dem es heißt: "Die Juden, d. h. vielleicht ein gewisser Teil und vielleicht der größere, tun gewiß auch jetzt, was sie nicht tun sollten, aber bestimmt kann man so nicht von allen sprechen, und das weißt Du sicher auch. Ich möchte aber nicht, dass Du nur mich ausnimmst, damit könnte ich nicht zufrieden sein.")


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at