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[An Ottla Kafka]
Liebste Ottla, zunächst sehe ich aus dem letzten Briefumschlag, dass
Deine Buchführung wieder in Ordnung ist. Das vorletzte
Kouvert trug nämlich die Nummer 17, also eine offenbare Verwechslung
der Konti. Das sollte nicht vorkommen.
Das Äußere der Vorträge habe ich mir nicht anders vorgestellt,
als Du es beschreibst, allerdings hatte ich angenommen, dass der Vortragende
gewöhnlich anwesend ist. Unter den Themen hast Du glaube ich gut gewählt,
führ es nun aber auch aus. In Deinem Brief schwimmt der Vorsatz, es
zu tun, schrecklich unsicher herum, jeden Augenblick glaubt man, er ertrinkt
endgültig. Und ich wäre so stolz auf Dich, wenn Du es machen
würdest. Und wenn Du es machst, gelingts auch das ist sicher. Allerdings
müßtest Du Dich sehr viel damit beschäftigen, das könnte
aber zum größten Teil ganz gut auf Spaziergängen geschehn.
Als Vorbild für den Vortrag nimm Dir statt der Redeübung in der
Schule lieber die Vorträge im Verein, der wirlich
eine ausgezeichnete Einrichtung zu sein scheint. So ausgezeichnet allerdings,
dass er auch Stellen vermittelt, scheint er aber nicht zu sein. (Nebenbei:
dieses überschriebene "aber" ist ganz
interessant, es ist offenbar wie auch das Mit-Bleistift-schreiben
eine Nachahmung Deiner Art, so wie ich schon früher z. B. in Deinen
Briefen Wendungen gefunden habe, die sich auffällig oft wiederholten
von Brief zu Brief und, trotzdem sie ganz gutes Deutsch waren, doch und
besonders in ihrer Wiederholung ungewöhnlich und fast gesucht klangen,
nicht das ausdrückten, was sie sagen wollten und doch einen guten,
sichern, bloß nicht auffindbaren Untergrund hatten. Eigentlich habe
ich es erst bei Deinem vorletzten Brief erkannt, dass es ganz gewiß
Übersetzungen aus dem Tschechischen sind und zwar richtige Übersetzungen
[nicht so wie letzthin einmal der Vater dem Herrn D.
von irgendjemandem erzählte, mit dem er "na přátelské
noze stojí"] die sich aber das Deutsche aufzunehmen weigert,
allerdings soweit ich, ein Halbdeutscher, es beurteilen kann).
Das Inserat in der Zeitung ist freilich nicht schön, es stört
geradezu mein Weltbild, nun wäre man also einer Adjunktenstellung
seinen Kenntnissen nach würdig, also für die Welt unentbehrlich,
kann aber keine Arbeit bekommen. Damit stimmt ja übrigens auch überein,
dass in unserer Anstalt, soviel ich weiß, 2 Beamte sind, die
früher Adjunkten waren (der Romeo und noch ein anderer ganz ausgezeichneter
Mann) und dass beide glücklich sind, Beamte geworden zu sein,
während man doch sonst viel eher, schon aus Redegewohnheit, jeden
Tausch beklagt. Dagegen ist allerdings zu halten, dass der Adjunkt
des Hausfreunds ein sehr fröhlicher Mann war und bis heute Adjunkt
geblieben ist. Schließlich ist dagegen auch die "Bodenreform"
zu halten. (Das Buch von Damaschke haben sie bei Euch nicht?)
- Eben habe ich vor meinem Balkon ein landwirtschaftliches Gespräch
gehört, das auch den Vater interessiert hätte. Ein Bauer gräbt
aus einer Grube Rübenschnitte aus. Ein Bekannter, der offenbar nicht
sehr gesprächig ist, geht nebenan auf der Landstraße vorüber.
Der Bauer grüßt, der Bekannte in der Meinung, ungestört
vorbeigehn zu können, antwortet freundlich: "Awua".
Aber der Bauer ruft ihm nach, dass er hier feines Sauerkraut habe,der
Bekannte versteht nicht genau, dreht sich um und fragt verdrießlich:
"Awua?" Der Bauer wiederholt die Bemerkung. Jetzt verstehts
der Bekannte, "Awua" sagt er und lächelt verdrießlich.
Weiter hat er aber nichts zu sagen, grüßt noch mit "Awua!"
und geht. - Es ist hier nicht viel zu hören vom Balkon.
Wie willst Du den Posten suchen und warum mußt Du vorher mit der
Mutter sprechen? Ich verstehe das nicht ganz. Daß
Du gelegentlich einer aus andererm Grund zu machenden Prager Reise mit
der Mutter darüber sprechen würdest, könnte ich verstehen.
Auch dass der Vater immer gut gelaunt ist, wäre noch kein großer
Grund, besonders da es wahrscheinlich nur ein Gerücht ist. Ich bleibe
zumindest noch 3 Wochen hier, solange mein neuer Urlaub reicht, werde also
nicht in Prag sein. Jedenfalls könntest Du aber in Prag die gleichen
Leute abgehn, bei denen Du wegen der Schule warst. Also Herrn
Klein, der Dich vielleicht dem Herrn Zuleger vorstellen könnte,
dann Herrn Oberinspektor (Smichow Žižkagasse 30) dann Deinen
Landeskulturratsfreund.
Das Buch ist sehr verlockend, aber schick es mir nicht her. Vor 8 - 10
Tagen bekäme ich es nicht, in 3 Wochen bin ich wahrscheinlich in Prag
und außerdem habe ich merkwürdigerweise hier wenig
Zeit. Außerdem kann ich nicht viel von Büchern erwarten,
viel mehr von einer Schule, am meisten aber von Not, vorausgesetzt dass
man noch Kraft hat, dort wo es nötig ist ihr zu widerstehn. Aber laß
das Buch, wenn Du kannst, in Prag für mich liegen. Ist es denn besser
als der "Pflug"? Und sind nicht vielmehr alle diese Bücher ausgezeichnet,
wenn sie von ausgezeichneten Schülern in die Hand genommen werden?
Daß Du Maxens Bemerkung lange nicht aus dem Kopf
bekamst, wundert mich eigentlich. Es ist doch keine fernliegende, sondern
eine selbstverständliche Bemerkung, die Du doch selbst schon tausendmal
gemacht haben wirst. Daß Du etwas außerordentliches tust und
dass das Außerordentliche gut zu tun eben auch außerordentlich
schwer ist, weißt Du. Vergiß Du nun aber niemals die Verantwortung
so schwerern Tuns, bleibst Dir bewußt, dass Du so selbstvertrauend
aus der Reihe trittst, wie etwa David aus dem Heer und behälst Du
trotz dieses Bewußtseins den Glauben an Deine Kraft, die Sache zu
irgendeinem guten Ende zu führen dann hast Du - um mit einem schlechten
Witz zu enden - mehr getan, als wenn Du 10 Juden geheiratet hättest
Franz
Deine Buchführung: Kafkas Bemerkung bezieht
sich darauf, dass Ottla ihre an David gerichteten Briefe auf der Rückseite
des Kuverts numerierte.
die Vorträge im Verein: Die Landwirtschaftliche
Winterschule in Friedland veranstaltete für die Bauern der Umgebung
Vorträge, die Ottla besuchte.
dieses überschriebene "aber": Kafka
hatte aus "allerdings" verbessert. Zu Ottlas Briefstil vgl.
KO 430 f.
das Mit-Bleistifl-schreiben: Vgl. den Editionsbericht
und einen undatierten, an Ottla und Franz gerichteten Brief der Mutter,
in dem sie sich dafür entschuldigt, dass sie mit Bleistift schreibt:
Ursache sei die viele Arbeit im Geschäft. "Es soll aber für
Dich l. Ottla kein Vorwurff sein, es ist nur eine Entschuldigung."
dem Herrn D. : also Josef Davids Vater; die tschechische
Wendung bedeutet: "auf freundschaftlichem Fuße steht";
Kafka meint, die wörtliche Übersetzung dieser deutschen Redewendung
ins Tschechische sei unrichtig, weil ein grober Germanismus.
"na přátelské noze stojí":
"auf freundschaftlichen Fuß steht".
Awua: Die deutschen Bauern in Schelesen sprachen
offenbar eine für den dialektfreien Städter Kafka ganz unverständliche
Mundart (vgl. Br 169 und 187). Der Hinweis auf das Interesse des Vaters
an diesem Dialog ist natürlich ironisch gemeint (vgl. den Schluß
von Nr. 88 und H 188, wo Hermann Kafkas dezidiertes Nichtinteresse an einfachen
Leuten belegt ist).
Ich verstehe das nicht ganz: Ottla schrieb am 16.
II. 1919 an David: "Nach Prag fahre ich, das habe ich schon sicher;
Mutter schrieb mir zurück, ich solle nur kommen. Das Fräulein
schreibt, dass Vater jetzt immer fröhlich ist, dass er mir
nicht böse sein wird. Und dann muß ich mit Mutter sprechen,
bevor ich anfange, eine Stelle zu suchen. Ich freue mich auch, dass
der Onkel sich für unsere Sache interessiert, dadurch wird es doch
leichter sein. Ich kann mir aber nicht vorstellen, dass es uns so
schnell gelingen würde, darum glaube ich, dass eine Stellung
für mich notwendig sein wird. In Prag habe ich außerdem viel
zu tun, ich brauche dort verschiedene Dinge." David war für
Ottla eher ein Grund nicht zu fahren. Sie befürchtete, dass ihre
Anwesenheit ihn in seinen Vorbereitungen auf eine Prüfung stören
würde. Vgl. Nr. 69, 71, 54 und die Anmerkungen zu Nr. 38.
Herrn Klein: Vgl. die Anmerkungen zu Nr. 61.
hier wenig Zeit: Dies und das Folgende bezieht
sich darauf, dass Kafka Anfang 1919 in Schelesen Julie Wohryzek kennenlernte,
die er dann im Herbst dieses Jahres heiraten wollte. Vgl. K. Wagenbach,
Julie Wohryzek, die zweite Verlobte Kafkas, in: J. Born u. a., Kafka-Symposion,
Berlin (1965), S. 39 ff. und die Anmerkungen zu Nr. 75.
Maxens Bemerkung: In ähnlichem Sinn äußerte
sich die Mutter am 1. XII. 1918 über David: "Er hat auf uns
den besten Eindruck gemacht, jedoch kann ich nicht leugnen, dass er
uns sehr fremd vorgekommen ist und man sich erst an seinen Verkehr gewöhnen
muß. Er ist sicher ein sehr braver und intelligenter Mensch, jedoch
hat der Vater verschiedene Bedenken, erstens der kleine Gehalt, dann die
Religion, nun hoffentlich wird alles gut werden. Wir wollen ja nichts Anderes,
als Dich glücklich zu sehen." (Vgl. Nr. 72) Kompliziert wurden
die Verhältnisse natürlich durch die von nationalistischen Tschechen
(eine Richtung, zu der David sicher zu rechnen ist, vgl. die Anmerkungen
zu Nr. 90) provozierten antisemitischen Ausschreitungen nach dem 1. Weltkrieg.
(Vgl. Nr. 62, 91, M 244, 248 und ein an David gerichtetes Schreiben Ottlas
vom 14. X. 1918, in dem es heißt: "Die Juden, d. h. vielleicht
ein gewisser Teil und vielleicht der größere, tun gewiß
auch jetzt, was sie nicht tun sollten, aber bestimmt kann man so nicht
von allen sprechen, und das weißt Du sicher auch. Ich möchte
aber nicht, dass Du nur mich ausnimmst, damit könnte ich nicht
zufrieden sein.")
Letzte Änderung: 17.4.2009 werner.haas@univie.ac.at