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Franz Kafka an Kurt Wolff


Prag, 11.X [19]16
 

Sehr geehrter Herr Kurt Wolff!

Zunächst erlaube ich mir Sie herzlichst wieder einmal in unserer Nähe zu begrüßen, trotzdem jetzt allerdings Ferne und Nähe nicht sehr unterschieden sind. Ihre freundlichen Worte über mein Manuskript sind mir sehr angenehm eingegangen. Ihr Aussetzen des Peinlichen trifft ganz mit meiner Meinung zusammen, die ich allerdings in dieser Art fast gegenüber allem habe, was bisher von mir vorliegt. Bemerken Sie, wie wenig in dieser oder jener Form von diesem Peinlichen frei ist! Zur Erklärung dieser letzten Erzählung füge ich nur hinzu, dass nicht nur sie peinlich ist, dass vielmehr unsere allgemeine und meine besondere Zeit gleichfalls sehr peinlich war und ist und meine besondere sogar noch länger peinlich als die allgemeine. Gott weiß wie tief ich auf diesem Weg gekommen wäre, wenn ich weitergeschrieben hätte oder besser, wenn mir meine Verhältnisse und mein Zustand das, mit allen Zähnen in allen Lippen, ersehnte Schreiben erlaubt hätten. Das haben sie aber nicht getan. So wie ich jetzt bin, bleibt mir nur übrig auf Ruhe zu warten, womit ich mich ja, wenigstens äußerlich als zweifelloser Zeitgenosse darstelle. Auch damit stimme ich ganz überein, dass die Geschichte nicht in den "Jüngsten Tag" kommen soll. Allerdings wohl auch nicht in den Vorlesesaal Goltz, wo ich sie im November vorlesen will und hoffentlich auch vorlesen werde. Ihr Angebot, das Novellenbuch herauszugeben ist außerordentlich entgegenkommend, doch glaube ich, dass (insbesondere da jetzt das "Urteil" dank ihrer Freundlichkeit besonders erscheint) das Novellenbuch nur als naher Vor- oder Nachläufer einer neuen größeren Arbeit eigentlichen Sinn hätte, augenblicklich also nicht. Übrigens glaube ich diese Meinung auch aus der betreffenden Bemerkung im Brief an Max Brod herauslesen zu können. Vor einer Woche etwa habe ich an Herrn Meyer einige Gedichte von Ernst Feigl (er ist Bruder des Malers Fritz Feigl, der unter anderem für Georg Müller Dostojewski illustriert) geschickt, es ist mir nun lieb, dass jetzt die Möglichkeit besteht, dass auch Sie die Gedichte in Leipzig lesen können. Vielleicht wäre es dem Verlag möglich diese schönen Gedichte irgendwie herauszubringen, es müßte ja nicht gleich sein, wenn auch "gleich" natürlich das erfreulichste wäre. Beim ersten Lesen der Gedichte mag beirren, dass sie verschiedene Anknüpfungen nach verschiedenen Seiten zeigen, liest man aber weiter so muß man glaube ich aus der Einheit des Ganzen finden, dass die kleinen Anknüpfungen wirklich klein, die großen aber im guten Sinne groß sind, als eine Flamme im gemeinsamen Feuer. So scheint es mir.

Ihr herzlich ergebener


Franz Kafka




mein Manuskript: "In der Strafkolonie".


Vorlesesaal Goltz: Im November 1916 las Kafka (zweite öffentliche Lesung) in München in der Bücherstube Hans Go1tz "In der Strafkolonie".


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at