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Postkarte an Felice Bauer

[Prag,] 11. X. 16
 


Liebste, heute kamen die Briefe vom Samstag, Sonntag und später der vom Montag. - Habe ich die Störung Deines Zustandes verschuldet? Nimm es mir nicht übel, wenn es wirklich so ist. Ich beherrsche mich so wenig und dieses Wenige ist das Äußerste, was ich leisten kann. Nochmals: verzeih! - Dagegen kann ich wegen der Unterlassung des Wunsches nicht um Verzeihung bitten, so gut ich einsehe, dass Deine Mutter den Kopf schütteln muß und wahrscheinlich mehr als das. Aber über den Rand meines Wesens kann ich bei größter Anstrengung besten Falls hinausschauen, darüber hinausgehn kann ich nicht. Du mußt das nicht verstehn, kannst es auch nicht mitfühlen, sollst es nur mitahnen können. Deine Mutter allerdings muß und kann und soll nichts von dem allen. Hier muß ich, muß es notwendigster Weise, muß versagen. Und es tut mir leid, aber allerdings nicht so stark, dass ich diese Hemmung, deren Beseitigung auch nicht in meiner Macht liegt, fortwünschen würde. Ich habe übrigens kaum zuhause ein Wort über Neujahr gesagt und Dir gar nicht[s], ganz entsprechend der Bedeutungslosigkeit, welche

das Datum jetzt für mich hat. Alles andere wäre Lüge, die sich ihrer besonderen Art nach weit in mir verzweigen würde. Allerdings habe ich Deiner Mutter gegenüber eine freilich sehr äußerliche Entschuldigung. Sie hat mir auf meinen Brief aus Marienbad nicht geantwortet, das soll ihr aber keinesfalls entgegengehalten werden, denn selbst wenn sie geantwortet hätte, hätte ich nicht gratuliert. Liebste, nimm mich so wie ich bin.

Franz




hätte ich nicht gratuliert: Kafka unterließ offenbar, Felicens Mutter zum jüdischen Neujahrsfest zu gratulieren.


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at