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Postkarte an Felice Bauer
Liebste, heute kamen die Briefe vom Samstag, Sonntag und später der
vom Montag. - Habe ich die Störung Deines Zustandes verschuldet? Nimm
es mir nicht übel, wenn es wirklich so ist. Ich beherrsche mich so
wenig und dieses Wenige ist das Äußerste, was ich leisten kann.
Nochmals: verzeih! - Dagegen kann ich wegen der Unterlassung des Wunsches
nicht um Verzeihung bitten, so gut ich einsehe, dass Deine Mutter
den Kopf schütteln muß und wahrscheinlich mehr als das. Aber
über den Rand meines Wesens kann ich bei größter Anstrengung
besten Falls hinausschauen, darüber hinausgehn kann ich nicht. Du
mußt das nicht verstehn, kannst es auch nicht mitfühlen, sollst
es nur mitahnen können. Deine Mutter allerdings muß und kann
und soll nichts von dem allen. Hier muß ich, muß es notwendigster
Weise, muß versagen. Und es tut mir leid, aber allerdings nicht so
stark, dass ich diese Hemmung, deren Beseitigung auch nicht in meiner
Macht liegt, fortwünschen würde. Ich habe übrigens kaum
zuhause ein Wort über Neujahr gesagt und Dir gar nicht[s], ganz entsprechend
der Bedeutungslosigkeit, welche
das Datum jetzt für mich hat. Alles andere wäre Lüge, die
sich ihrer besonderen Art nach weit in mir verzweigen würde. Allerdings
habe ich Deiner Mutter gegenüber eine freilich sehr äußerliche
Entschuldigung. Sie hat mir auf meinen Brief aus Marienbad nicht geantwortet,
das soll ihr aber keinesfalls entgegengehalten werden, denn selbst wenn
sie geantwortet hätte, hätte ich nicht gratuliert.
Liebste, nimm mich so wie ich bin.
Franz
hätte ich nicht gratuliert: Kafka unterließ
offenbar, Felicens Mutter zum jüdischen Neujahrsfest zu gratulieren.
Letzte Änderung: 17.4.2009 werner.haas@univie.ac.at