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An Felice Bauer
Ich schreibe schon jetzt, denn wer weiß, wie spät und wie zerstreut
ich abends nachhause kommen werde. Denke nur, ich bleibe heute abend -
ich sah es schon seit einem Monat kommen - nicht zuhause. Es reut mich
schon jetzt, und ich will zufrieden sein, wenn es mich ¼ Stunde
lang während des heutigen Abends nicht reut. Buber hält nämlich
einen Vortrag über den jüdischen Mythos; nun
Buber würde mich noch lange nicht aus meinem Zimmer treiben, ich habe
ihn schon gehört, er macht auf mich einen öden Eindruck, allem,
was er sagt, fehlt etwas. (Gewiß kann er auch viel, er hat Chinesische
Geschichten
(Ich hatte gerade kein Löschblatt bei der Hand, und während ich
wartete bis die Seite trocknet, las ich in der Education [sentimentale],
die gerade neben mir liegt, die Seiten 600 bis 603. Du lieber Gott! Ach
lies das, Liebste, lies das nur! "Elle avoua qu'elle désirait
faire un tour à son bras, dans les reus." Was ist das für
ein Satz! Was ist das für ein Gebilde! Die zerstrichenen Seiten, Liebste,
bedeuten nicht Nächte, in denen es an Kraft fehlte. Gerade das sind
Seiten, in die er sich ganz vertiefte, in denen er sich jedem menschlichen
Auge verlor. Und noch bei der dritten Niederschrift erlebte er, wie Du
aus dem Anhang des Bandes sehen kannst, dieses unendliche Glück.)
um in der Klammer fortzufahren: er, Buber, hat also "Chinesische
Geister- und Liebesgeschichten" herausgegeben, die, soviel ich
davon kenne, prachtvoll sind.). Aber nach Buber liest die Eysoldt vor und
ihretwegen gehe ich. Hast Du sie schon gehört? Ich sah sie als Ophelia
und als Glaube in "Jedermann". Ihr Wesen und
ihre Stimme beherrschen mich geradezu. Ich werde wahrscheinlich erst nach
Bubers Vortrag hingehe.
Ja, Liebste, die Bemerkung in meinem Sonntagsbrief. Es nützt nichts,
ich muß sie noch einmal erwähnen. Sie ist sehr arg, nicht war?
Nein, Du bist darin gar nicht eigenartig. Sag, wie kann einem nur so etwas
geschehn? Liebste, ich bitte Dich nochmals, verzeih es mir, sprich alles
aus, laß keine Bitterkeit gegen mich in Dir zurück, sag mir
noch einmal ausdrücklich, dass Du verziehen hast, begieß
die Bemerkung mit Tinte und schreib mir, dass es geschehen ist. Ich
werde aufatmen. Welcher Teufel führte mir damals die Hand!
__________
3 Uhr vorüber, Felice, denke nur. Viel gesehen, manches gehört,
nichts, was den schönen Schlaf wert wäre. Gute Nacht, meine Liebste.
Wie Du ruhig schläfst und der Dir gehört, wandert so in der Ferne
umher. Freuen Dich solche Karten wie die beiliegende? Auf dem Bild die
Nackte in der Ecke ist Ottla.
Franz
[Am Rande] Das Bild muß ich zurückhaben, ich habe es der Ottla
gestohlen.
Mythos: "Der Mythos der Juden" auf dem
Festabend des Vereins "Bar Kochba". Ein Teilabdruck erschien
in: Vom Judentum. Eint Sammelbuch, herausgegeben vom Verein Jüdischer
Hochschüler "Bar Kochba" in Prag, Leipzig 1913, S. 21
ff.
Chinesische Geister- und Liebesgeschichten: herausgegeben
und eingeleitet von Martin Buber, Frankfurt am Main 1911.
Jedermann:Hugo von Hofmannsthals Jedermann
wurde am 12. Mai 1912 im Neuen Deutschen Theater in Prag (Gastspiel des
Berliner Deutschen Theaters) aufgeführt.
Ihr Wesen . . . geradezu: Die Schauspielerin Gertrud
Eysoldt vom Reinhardt-Ensemble in Berlin.
Letzte Änderung: 17.4.2009 werner.haas@univie.ac.at