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An Felice Bauer

vom 15. zum 16. 1. 13
 


Heute ist noch verhältnismäßig bald, aber ich will mich auch bald niederlegen, denn das gestrige, beiläufig gute Schreiben habe ich mit Kopfschmerzen während des ganzen Tags (diese Kopfschmerzen sind eigentlich eine Erfindung der letzten 2 Monate, wenn nicht gar erst des Jahres 1913) und schlechtem von Träumen zerplatzendem Schlaf bezahlt. Zwei Abende hintereinander gut zu schreiben ist mir schon lange nicht gelungen. Was für eine unregelmäßig geschriebene Masse das sein wird, dieser Roman! Was für eine schwere Arbeit, vielleicht eine unmögliche das sein wird, nach der ersten Beendigung in die toten Partien auch nur ein halbes Leben zu bringen! Und wie viel Unrichtiges wird stehen bleiben müssen, weil dafür keine Hilfe aus der Tiefe kommt.

Gestern vergaß ich etwas zu fragen, trotzdem es mir viel im Kopf herumging. Was bedeutet es, dass Du Sonntag abends schriebst, Du hättest schon während des Tages Rückenschmerzen gehabt, und es wäre Dir nicht ganz wohl gewesen. Selbst am Sonntag, wo Du Dich ausruhn konntest, war Dir nicht wohl? Ist das noch mein gesundes Mädchen? Und ist das mein vernünftiges Mädchen, das den ganzen Sonntag (nach Deinem Briefe scheint es so) zu Hause und bei der Tante verbringt, statt in die schöne Winterluft zu gehn. Schreib mir darüber, Liebste, und die reine Wahrheit! Ich höre immer den Fluch Deiner Mutter: "Das ist Dein Ruin!" Aber wenn sie damit das Schreiben nur meint - und nach dem Zusammenhang meint sie vielleicht nur das Schreiben - dann hat sie einmal unrecht. Mir genügen 5 Zeilen meiner Liebsten - sag das einmal Deiner Mutter zur Beruhigung ins Ohr, wenn sie mittags schläft - fünf Zeilen sind zwar eine große Forderung, aber einen Ruin macht das nicht. Freilich, wenn die Liebste lange Briefe schreibt! Aber das ist, Mutter, nicht meine Schuld, das Zanken aus diesem Grunde kommt auch mir aus dem Herzen. Aber vielleicht meint die Mutter nicht das Schreiben - dann weiß ich freilich nichts zu antworten.

Du hast mir einmal versprochen, dass Du mir sagen wirst, warum Du die Arbeit beim Professor nicht aufgeben oder wenigstens nicht einschränken kannst. Wie kamst Du überhaupt zu dem Professor?

Von meinem Schwager schreibe ich Dir noch, von Max auch, von Löwy auch, es ist mir schließlich so gleichgültig, wovon ich schreibe, nur dass ich mit jedem Wort Dich, Liebste, zu berühren glaube, hat Wert. "Heimliche Liebe" wird hier nicht gespielt, aber unser neuer Kanarienvogel hat jetzt in der Nacht, trotzdem er zugedeckt ist, ein Trauerlied angefangen.

Franz


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at