Voriger Eintrag | Jahresübersicht | Indexseite | Nächster Eintrag |
An Felice Bauer
Ich habe jetzt, Liebste, nach langer Zeit wieder einmal eine schöne
Stunde mit Lesen verbracht. Niemals würdest Du erraten, was ich gelesen
habe und was mir solche Freude gemacht hat. Es war ein alter Jahrgang der
Gartenlaube aus dem Jahre 1863. Ich habe nichts Bestimmtes gelesen, sondern
200 Seiten langsam durchgeblättert, die (damals noch wegen der kostspieligen
Reproduktion seltenen) Bilder angeschaut und nur hie und da etwas besonders
Interessantes gelesen. Immer wieder zieht es mich so in alte Zeiten, und
der Genuß, menschliche Verhältnisse und Denkweise in fertiger,
aber noch ganz und gar verständlicher (mein Gott, 1863, es sind ja
erst 50 Jahre her) Fassung zu erfahren, trotzdem aber nicht mehr imstande
zu sein, sie von unten her gefühlsmäßig im Einzelnen zu
erleben, also vor die Notwendigkeit gestellt sein, mit ihnen nach Belieben
und Laune zu spielen, - dieser widerspruchsvolle Genuß ist für
mich ungeheuer. Immer wieder lese ich gerne alte Zeitungen und Zeitschriften.
Und dann dieses alte, einem ans Herz gehende wartende Deutschland von der
Mitte des vorigen Jahrhunderts! Die engen Zustände, die Nähe,
in der sich jeder dem andern fühlt, der Herausgeber dem Abonnenten,
der Schriftsteller dem Leser, der Leser den großen Dichtern der Zeit
(Uhland, Jean Paul, Seume, Rückert "Deutschlands Barde und Brahmane").
Ich habe heute nichts geschrieben, und sobald ich das Buch weglege, befällt
mich pünktlich die Unsicherheit, die hinter dem Nichtschreiben hergeht
als sein böser Geist. Nur ein guter Geist könnte ihn vertreiben,
und er müßte ganz nahe bei mir sein und mir sein Wort, das ein
großes Gewicht hätte, dafür verpfänden, dass
der Verlust eines Abends, an dem ich nichts (infolge dessen auch nichts
Schlechtes) geschrieben habe, nicht unersätzlich sei (wie er es ja
tatsächlich ist, aber es müßte ebenjener Mund sein, der
jetzt am Sonntag vormittag diese Zeilen anlächelt, und dem ich eben
alles glaube) und dass ich meine Fähigkeit zu schreiben, in ihrer
ganzen Fragwürdigkeit, infolge des einen ungenützten Abends nicht
verlieren werde, wie ich, ganz allein an meinem Tisch (im geheizten Wohnzimmer,
Hausmütterchen!) sehr ernsthaft befürchte. Ich bitt zu müde
zum Schreiben gewesen (eigentlich nicht zu müde, aber ich befürchtete
große Müdigkeit, nun, 1 Uhr ist es schon), gestern kam ich ja
erst um 3 Uhr nach Hause, aber auch dann wollte das Einschlafen noch lange
nicht gelingen, und ganz unschuldig wurde mir noch die 5te Stunde in das
schrecklich aufmerksame Ohr geläutet. Nun kommt aber morgen wieder
eine neue, allerdings auch schon lange vorhergesehene Störung, ich
gehe nämlich - ja, es ist wahr - morgen abend ins Theater. So folgen
einander die Vergnügungen, aber dann ist Schluß für lange
Zeit. Ich war wohl schon ein Jahr lang nicht im Theater und werde wieder
ein Jahr lang nicht gehn, aber morgen ist das russische Ballett
zu sehn. Ich habe es schon vor 2 Jahren einmal gesehn und Monate davon
geträumt, besonders von einer ganz wilden Tänzerin
Eduardowa. Die kommt nun nicht, sie wurde wohl auch nur für eine
nebensächliche Dame angesehn, auch die große Karsawina kommt
nicht, sie ist mir zum Trotz erkrankt, aber doch bleibt noch vieles. Einmal
erwähntest Du das russische Ballett in einem Brief, eine Debatte sollte
im Bureau über das russisehe Ballett stattgefunden haben. Was war
denn das? Und wie ist dieser Tangotanz, den Du tanztest? Heißt er
überhaupt so? Ist es etwas Mexikanisches? Warum gibt es von jenem
Tanz kein Bild? Schöneren Tanz als bei den Russen und schönem
Tanz als in einzelnen Bewegtragen einzelner Tänzerinnen hie und da
habe ich dann nur bei Dalcroze gesehn. Hast Du seine Schule
in Berlin tanzen sehn? Sie tanzt dort öfters, glaube ich.
Aber was mische ich mich da unter Tänzerinnen, statt lieber schlafen
zu gehn und vorher noch, Felice, Deinen Kopf an meine Brust zu nehmen,
die Dich viel mehr braucht, als Du Dir denken kannst. Ich hätte Dir
noch so viel zu sagen und zu antworten, aber die Masse des zu Sagenden
ist größer und schwieriger als die wirkliche Entfernung zwischen
uns, und beide schauen wie unüberwindlich aus.
Wie wäre es, fällt mir noch ein, wenn Deine Mutter bei Überreichung
dieses Briefes zur großen Überraschung etwas Freundliches sagte.
Aber es ist vielleicht unmöglich, der Brief verdient keine Freundlichkeit,
er bringt Dir vielleicht nichts Gutes, trotzdem er im ganzen Umkreis der
Welt nichts anderes will, und er soll froh sein, dass er bis in Deine
Hände kommen darf.
Franz
Eben schrieb ich auf die Briefadresse irrtümlich meine Hausnummer
statt Deiner, und 7 leere Sesseln haben im Umkreis um mich dabei zugesehn.
Wie ist das zu verstehn? Deine Mutter ist abend im Wohnzimmer, während
Dein Vater im Schlafzimmer liest? Was macht Deine Mutter allein im Wohnzimmer?
Dann noch etwas. Hast Du im Sommer vielleicht andere Bureaustunden als
im Winter, da Du schreibst, dass Du Freitag nachmittags im Sommer
in [den] Tempel gehst. (Ich war schon seit einigen Jahren nur 2 mal im
Tempel - bei den Hochzeiten meiner Schwestern) Ich dachte, Du machtest
Spaß wegen der Mäuse. Die gibt es also wirklich? Armes Kind!
russische Ballett: Das Russische Ballett gab im
Frühjahr 1910 ein Gastspiel im Prager Neuen Deutschen Theater.
Tänzerin Eduardowa:Über die Tänzerin
Eduardowa vgl. Tagebücher (1910), S. 9 ff.
Dalcroze: Emile Jacques-Dalcroze (1865-1950), Komponist
und Begründer einer reformpädagogischen rhythmischen Gymnastik,
Direktor des bekannten Hellerauer Instituts. Kafka besichtigte 1914 die
Dalcroze-Schule. Vgl. Tagebücher (30. Juni 1914), S. 406 f.
Letzte Änderung: 17.4.2009 werner.haas@univie.ac.at