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[An Max Brod]
[Prag, 1904]

Ich wunderte mich, dass Du mir nichts über Tonio Kröger geschrieben hast. Aber ich sagte zu mir: "Er weiß wie froh ich bin wenn ich einen Brief von ihm bekomme und über Tonio Kröger muß man etwas s agen. Offenbar hat er mir also geschrieben aber es gibt Zufälle, Wolkenbrüche, Erdbeben, der Brief ist verloren gegangen." Gleich darauf aber ärgerte ich mich über diesen Einfall, da ich nicht in Schreiberlaune war, und schimpfend dar über einen vielleicht ungeschriebenen Brief beantworten zu müssen, begann ich zu schreiben:
Als ich Deinen Brief bekam, überlegte ich in meiner Verwirrung, ob ich zu Dir gehn oder Dir Blumen schicken sollte. Aber ich that keines von beiden, theils aus Nachlässigkeit, theils weil ich fürchtete Dummheiten zu begehn, da ich ein weni g aus meinem Schritt gekommen bin und traurig bin wie ein Regenwetter.
Da hat mir aber Dein Brief gut gethan. Denn wenn mir jemand eine Art von Wahrheit sagt, so finde ich das anmaßend. Er belehrt mich dadurch, erniedrigt mich, erwartet von mir die Mühsal eines Gegenbeweises, ohne aber selbst in Gefahr zu sein, d a er doch seine Wahrheit für unangreifbar halten muß. Aber so ceremoniell, unbesonnen und rührend ist es, wenn man jemandem ein Vorurtheil sagt, noch rührender ist es wenn man es begründet und gar wenn man es wieder mit Vorurthe ilen begründet.
Du schreibst vielleicht auch von der Ähnlichkeit mit Deiner Geschichte "Ausflug ins Dunkelrothe". Ich habe auch früher an eine solche ausgebreitete Ähnlichkeit gedacht, ehe ich "Tonio Kröger" jetzt wieder gelesen habe . Denn das Neue des "Tonio Kröger" liegt nicht in dem Auffinden dieses Gegensatzes (Gott sei Dank, dass ich nicht mehr an diesen Gegensatz glauben muß, es ist ein einschüchternder Gegensatz) sondern in dem eigenthümlichen nutzbr ingenden (der Dichter im "Ausflug") Verliebtsein in das Gegensätzliche.
Wenn ich nun annehme, dass Du über diese Gegenstände geschrieben hast, so verstehe ich nicht warum Dein Brief im ganzen so aufgeregt und ohne Athem ist. (Es ist möglich, dass das bei mir bloß eine Erinnerung daran ist, da&s zlig; Du Sonntag Vormittag so gewesen bist.) Ich bitte Dich laß Dich ein wenig in Ruhe.
Ja, ja es ist gut, dass auch dieser Brief verloren gehen wird

Dein Franz K.


Nach zwei verlernten Tagen.


Quelle: Franz Kafka ; Max Brod: Eine Freundschaft (II). Briefwechsel. Hrsg. von Malcolm Pasley. Frankfurt am Main 1989.

Tonio Kröger: Thomas Manns Novelle ist zunächst in der Neuen Rundschau (Februarheft 1903), dann im Band Tristan. Sechs Novellen (Berlin: S. Fischer 1903) erschienen.
Ausflug ins Dunkelrothe: Über seinen Freund Kafka schreibt Oskar Baum: "Unsere erste Begegnung steht mir noch in klarer Erinnerung. Max Brod vermittelte sie. Er brachte Franz Kafka zu mir und las uns an jenem Herbstnachm ittag 1904 seine eben vollendete Novelle 'Ausflüge ins Dunkelrote' vor" (Witiko 1929: 3, S.126). Die Novelle wurde erst 1909 - Max Brod, Die Erziehung zur Hetäre, Ausflüge ins Dunkelrote, Berlin etc.: Juncker - veröffentlich t.

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at