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[An Max Brod]
[Prag, 28.8.1904; Sonntag]
[Stempel: Prag, 29.8.04; Ankunftstempel: St. Wolfgang, 30.8.04]

An Herrn Max Brod     St. Wolfgang     "Zum Cortissen"
[Abs.:] Franz Kafka     Zeltnergasse     Prag

Es ist sehr leicht am Anfang des Sommers lustig zu sein. Man hat ein lebhaftes Herz, einen leidlichen Gang und ist dem künftigen Leben ziemlich geneigt. Man erwartet Orientalisch-Merkwürdiges und leugnet es wieder mit komischer Verbeugung und mit baumelnder Rede, welches bewegte Spiel behaglich und zitternd macht. Man sitzt im durcheinandergeworfenen Bettzeug und schaut auf die Uhr. Sie zeigt den späten Vormittag. Wir aber malen den Abend mit gut gedämpften Farben und Fernsichten, die sich ausdehnen. Und wir reiben unsere Hände vor Freude roth, weil unser Schatten lang und so schön abendlich wird. Wir schmücken uns in der innern Hoffnung, dass der Schmuck unsere Natur werden wird. Und wenn man uns nach unserm beabsichtigten Leben fragt, so gewöhnen wir uns im Frühjahr eine ausgebreitete Handbewegung als Antwort an, die nach einer Weile sinkend wird, als sei es so lächerlich unnöthig, sichere Dinge zu beschwören.
Wenn wir nun ganz enttäuscht würden, so wäre es zwar für uns betrübend, aber doch wieder wie eine Erhörung unseres täglichen Gebetes die Folgerichtigkeit unseres Lebens möge der äußern Erscheinung nach uns gnädigst erhalten bleiben.
Wir werden aber nicht enttäuscht, diese Jahreszeit, die nur ein Ende, aber keinen Anfang hat, bringt uns in einen Zustand, der uns so fremd und natürlich ist, dass er uns ermorden könnte.
Wir werden förmlich von einer wehenden Luft nach ihrem Belieben getragen und es muß nicht ohne Scherzhaftigkeit sein, wenn wir uns im Luftzug an die Stirne greifen oder uns durch gesprochene Worte zu beruhigen suchen, die dünnen Fingerspitzen an die Kniee gepreßt. Während wir sonst bis zu einem gewissen Maße höflich genug sind, von einer Klarheit über uns nichts wissen zu wollen, geschieht es jetzt, dass wir sie mit einer gewissen Schwäche suchen, freilich in der Weise, mit der wir zum Spaße so thun als wollten wir mit Anstrengung kleine Kinder fangen, die langsam vor uns trippeln. Wir durchwühlen uns wie ein Maulwurf und kommen ganz geschwärzt und sammethaarig aus unsern verschütteten Sandgewölben unsere armen rothen Füßchen für zartes Mitleid emporgestreckt.
Bei einem Spaziergang ertappte mein Hund einen Maulwurf, der über die Straße laufen wollte. Er sprang immer wieder auf ihn und ließ ihn dann wieder los, denn er ist noch jung und furchtsam. Zuerst belustigte es mich und die Aufregung des Maulwurfs besonders war mir angenehm, der geradezu verzweifelt und umsonst im harten Boden der Straße ein Loch suchte. Plötzlich aber als der Hund ihn wieder mit seiner gestreckten Pfote schlug, schrie er auf. Ks, kss so schrie er. Und da kam es mir vor - Nein es kam mir nichts vor. Es täuschte mich bloß so, weil mir an jenem Tag der Kopf so schwer herunterhieng dass ich am Abend mit Verwunderung bemerkte, dass mir das Kinn in meine Brust hineingewachsen war. Aber am nächsten Tag hielt ich meinen Kopf wieder hübsch aufrecht. Am nächsten Tag zog sich ein Mädchen ein weißes Kleid an und verliebte sich dann in mich. Sie war sehr unglücklich darüber und es ist mir nicht gelungen sie zu trösten, wie das eben eine schwere Sache ist. Als ich an einem andern Tage nach einem kurzen Nachmittagsschlaf die Augen öffnete meines Lebens noch nicht ganz sicher, hörte ich meine Mutter in natürlichem Ton von Balkon hinunterfragen: "Was machen Sie?" Eine Frau antwortete aus dem Garten: " --- Ich jause im Grünen." Da staunte ich über die Festigkeit mit der die Menschen das Leben zu tragen wissen. An einem andern Tage freute ich mich mit einem gespannten Schmerz über die Erregung eines Tages, der bewölkt war. Dann war eine verblasene Woche oder zwei oder noch mehr. Dann verliebte ich mich in eine Frau. Dann tanzte man einmal im Wirthshaus und ich gieng nicht hin. Dann war ich wehmüthig und sehr dumm, so dass ich stolperte auf den Feldwegen, die hier sehr steigend sind. Dann einmal las ich in Byrons Tagebüchern diese Stelle (Ich schreibe sie in dieser beiläufigen Art, weil das Buch schon eingepackt ist): "Seit einer Woche habe ich mein Haus nicht verlassen. Seit drei Tagen boxe ich täglich vier Stunden mit meinem Fechtmeister in der Bibliothek bei offenen Fenstern, um meinen Geist zur Ruhe zu bringen." Und dann und dann war der Sommer zu Ende und ich finde, dass es kühl wird, dass es Zeit wird die Sommerbriefe zu beantworten, dass meine Feder ein wenig ausgeglitten ist und dass ich sie deshalb niederlegen könnte.

Dein Franz K.       .

28 August


Quelle: Franz Kafka ; Max Brod: Eine Freundschaft (II). Briefwechsel. Hrsg. von Malcolm Pasley. Frankfurt am Main 1989.

Als ich..."Ich jause im Grünen": Diese Stelle findet sich - mit fast identischen Wortlaut - in Kafkas "Beschreibung eines Kampfes".
Byrons Tagebüchern: George Gordon Noel Byron, 6. Baron Byron, englischer Dichter (1788-1824). Byrons Tagebücher und Briefe, hrsg. von Hans Landsberg, Bd. I (4. Aufl., Berlin: Simion, 1904) befindet sich in Kafkas nachgelassener Bibliothek. Er zitiert Byrons Tagebucheintragung vom 10. April 1814.

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at