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[An die Eltern] E Nr. 25

[Wien, Klinik Prof. Hajek, 13. April 1924]
 


Liebste Eltern, gestern gegen Ende der Besuchstunde spaziert da plötzlich Karl durch den Korridor. Das war eine hübsche Überraschung. Dann Euer lieber vernünftiger Brief, in welchem nur einzig und allein der tägliche R... (nicht mein Fehler, sondern der von Doras Füllfeder) Regen in Venedig mir gar nicht gefällt. Ganz und gar sinnlos und für mich sehr traurig wäre es, wenn der Onkel so grundlos, vor allem für mich zwecklos, in seiner Reise gestört würde. Nun hoffentlich erreicht ihn Euer Telegramm nicht, das ist meine einzige Hoffnung. Dem Dr. W. dürft Ihr nicht besonders böse sein, soviel wie das Mittelmaß versteht er auch, nur war er zu faul, den Kehlkopfspiegel mitzubringen und die von ihm empfohlene Kaugummi war freilich auch nicht das richtige Mittel. Gestern bekam ich eine Mentholeinpritzung, die recht gut gewirkt hat. Eben kommt wieder Karl.

Herzlichste Grüße Euch und allen

F.


Bitte, wenn es irgendwie möglich ist, eine Daunensteppdecke, oder einfache Steppdecke und ein Polster zu schicken. In der Klinik bekommt er nur das notwendigste, und er ist doch einwenig verwöhnt. Kaufen ist teuer.

Herzlichst. D.




Postkarte, 14 x 9 cm, beide Seiten mit Tinte beschrieben, einschließlich der Adresse: Hermann Kafka, Prag, Staromestské námestí c 6/III posch. Über der Adresse der Zusatz Wiener Klinik Hajek, offensichtlich von der Hand der Mutter. Frankierung: 1400 österreichische Kronen.

Undatiert; Zuordnung nach dem Briefinhalt (»... gestern gegen Ende der Besuchsstunde spaziert da plötzlich Karl durch den Korridor«) und nach dem Poststempel: 13. IV. 24, bestimmt.


1]spaziert da plötzlich Karl durch den Korridor: Vgl. Nr. 24.


2] der tägliche R . . . : Das Wort Regen fast ganz von einem Tintenklecks verdeckt.


3] wenn der Onkel... in seiner Reise gestört würde: Dazu schreibt Kafka später seinen Eltern aus Kierling (Binder und Wagenbach datieren den Brief auf Ende April 1924): »Vom Onkel bekam ich gestern eine lang umhergeirrte Karte aus Venedig. Von täglichen Regenfällen stand dort aber nichts, vielmehr das Gegenteil.« (O, 154)


4] Dr. W. : Es könnte sich um Dr. med. Emil A. Wessely handeln, der zu jener Zeit Prof. Hajeks Assistent war. Laut Auskunft von Frau Rotmut Hackermüller ist Franz Kafkas Krankheitsbericht an Hajeks laryngologischer Klinik von seiner Hand verfaßt worden. Es ist jedoch wenig wahrscheinlich, daß sich Kafka bei seinen Eltern über eine mangelhafte ärztliche Untersuchung bei seiner Aufnahme in die Klinik beschwert hat und daß sie deshalb erzürnt waren, zumal aus dem Krankheitsbericht (vgl. Fotokopie bei RH 111-112) hervorgeht, daß die Untersuchung gründlich war. Es ist nicht vorstellbar, daß ein Klinikarzt, der die Diagnose »Tbc laryngis« stellte, dem Patienten Kaugummi als Heilmittel empfohlen hätte. Kafka hatte eher jenen Prager Arzt im Sinn, der ihn vermutlich während seines dreiwöchigen Aufenthaltes in Prag, vor der Abreise ins Sanatorium Wienerwald, untersucht hatte, als sich bei ihm die Anzeichen einer Kehlkopferkrankung bemerkbar machten (vgl. Brief an Klopstock, Br, 480): ». . . kann ja auch nur flüstern (wie schnell das ging, etwa am dritten Tag in Prag begann es andeutungsweise zum erstenmal).« In Chytils Adreßbuch der Hauptstadt Prag von 1924 gibt es mehrere Ärzte, deren Name mit W. beginnt und die in der Umgebung von Kafkas Wohnung praktizierten.


5] Bitte, wenn es irgendwie möglich ist: Zusatz von Dora Diamant.

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at