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[An die Eltern] E Nr. 12

[Berlin-Steglitz, 5.-8. Januar 1924]
 


Liebste Eltern, nein, nun ist es wirklich zu viel, es ist nicht richtig, dass es nicht die "Welt" kostet, nun kostet es sie schon wirklich fast. Die letzte Sendung ist ja prachtvoll, so viel Gutes und Süßes und Saftiges und Banknotliches und so schön ausgewählt und zusammengelegt, aber nun bitte ich auch um eine große Pause, um das alles in Frieden aufessen zu können und nicht durch das Ankommen neuer Pakete abgelenkt zu werden. Butter z.B. habe ich jetzt - wieder das fachmännische Gutachten - bis Ende des Monats; wenn jetzt wieder ein Paket mit Butter angekündigt wird, so ist das eben zu viel, zu teuer zu üppig, zu beschämend, natürlich werde ich alles "zurückzahlen" aber Ihr dürft es mir durch die Menge nicht zu schwierig machen. D. hat übrigens von der ganzen Sendung am meisten die "gute Fee" gefreut. - Es ist ja schlimm mit der Teuerung hier (die eine Schachtel war in einen Bogen eines alten "Prager Tagblatts" eingepackt mit einem Aufsatz "Die Not der Ausländer in Berlin" ja, so ist es, und die Nachricht über die Verbilligung der Stadtbahnfahrt war sogar irrtümlich, nur die über die Verbilligung des Spiritus stimmt und wenn in Prag ein kg Butter 22 K kostet, so kostet es hier mehr als doppelt so viel) aber die Teuerung hat doch auch ihr Gutes, sie ist erzieherisch, man wird bescheidener (nicht hinsichtlich des Essens, das liegt nicht in meiner Macht, ich bekomme das Beste und Teuerste, lerne es aber immerhin besser zu würdigen) und es gibt auch sonst noch gute Wirkungen, denen sich nur der widerspenstige Körper manchmal entgegenstellt. - Euere große Sylvesterfeier (den Onkel vermisse ich unter den Anwesenden) und der Tanz haben mich sehr gefreut, ich habe Sylvester auch mitgemacht, wenn auch nur vom Bett aus. Trotzdem ich nur zwischen Gärten wohne, das städtische Steglitz ziemlich entfernt ist und Berlin erst recht, war doch der Lärm bei offenem Fenster stundenlang ungeheuerlich, ohne Rücksicht auf den Frost, der Himmel voll Raketen, im ganzen großen Umkreis Musik und Geschrei. - Was das Fieber betrifft, so ist das schon eine alteSache und war unglaublich schnell, schon den zweiten Tag vorüber.

Verkühlung war es wohl nicht, nach der Art seines Auftretens zu schließen. Nun, es ist vorüber. Auch ist die Kälte in der Wohnung nicht so schlimm, wie Ihr zu glauben scheint, ich sitze bei der Centralheizung und dort ist es recht gut. Die Abgabe des einen Zimmers war nur ein Plan, von dem man inzwischen abgekommen ist. (übrigens bin ich auch jetzt nicht ohne Nachbar, zwischen dem Wohnzimmer und dem Schlafzimmer ist das Schlafzimmer der Hausfrau, so dass ich in jedem Zimmer ihre Nachbarschaft habe und allerdings sie auch die meine). Ich werde nichts abgeben, sondern wahrscheinlich ausziehn, die Hausfrau kommt nicht aus und sie wird deshalb auch ihr Schlafzimmer vermieten d.h. die ganze Etage an eine Partei, dafür wird sie gewiß viel mehr Geld bekommen. Aber deshalb ist Euer Besuch durchaus nicht in Frage gestellt, ich habe schon eine andere Wohnung in Aussicht, ich werde so die Umgebung von Berlin kennenlernen, das ist gar nicht schlecht. Diese Wohnung ist ja außerordentlich schön, aber auch sie hat paar Nachteile und da jede Wohnung paar Vorteile hat, so lernt man bei häufigem Wohungswechsel mit der Zeit auch viele Vorteile kennen, man muß nur schnell genug wechseln, um von jeder Wohnung den Vorteil wegzunippen. In Prag wäre mir eine übersiedlung schrecklich gewesen, hier macht es mir nicht viel aus. - Vielen Dank für Deine Absicht gegenüber dem Fräulein, aber einfach Geld zu geben, wäre nicht gut. Es muß eben hingenommen werden, dass ich mich diesmal schäbig und gar nicht hübsch ihr gegenüber benommen habe, vielleicht findet sich eine Möglichkeit es gutzumachen. - Das Reformblatt bitte bezahlt, es kostet, glaube ich, 10 Kc. Ich vergaß noch für die Ausschnitte aus dem Prager Abendblatt zu danken. Ihr könntet auch immer paar alte Nummern des "Tagblatt" beilegen, sie sind immer interessant, hiesige Zeitungen lese ich sowieso nicht, das Berliner Tagblatt kostet 2 K pro Nummer, aber nicht viele, je weniger es sind, desto wertvoller sind sie. - So schließt also der Brief richtig, wie er angefangen hat, auch wieder mit einer Bitte. Herzlichste Grüße und Dank Euch allen

F.


Liebe Ottla, vielen Dank für die Übersetzungen, sie sind fast so gut wie die Marmelade, was für ein geschicktes Ehepaar und wie geschickt auch ich, der ich von jedem alles brauchen kann. Der Vergleich mit dem neuen Zimmerherrn berührt mich merkwürdig, erstens verdankt Ihr den Zimmerherrn mir, so dass eigentlich ich dem Pepa den Sportanzug - (keinen Dank, ich kann Dank nicht vertragen) und zweitens habe ich vor zwei Jahren der Věra ein Bilderbuch für 20 K gekauft. Nun also! - Der Butterpreis ist von hier aus gesehen, ungeheuerlich, hier kostet ein Pfund gewiß nicht so guter Butter 2 M 70; wenn man nicht imstande ist, das eigentlich Süße aus Berlin zu saugen oder wenn man nicht die Hoffnung hat, es vielleicht annähernd zu können, müßte man eigentlich sofort wegfahren. - Ich vergaß noch der Mutter zu sagen: Seife ist hier billig genug, bitte keine schicken, die Arbeit ist so teuer und bildet den Preis und die Hausfrau gibt die Waschküche nicht her und auf Kerzenstümpfen kann man nicht waschen, aber vielleicht wird die Wäsche doch ein wenig billiger werden, ich schrieb wegen der Wäschesendung nur im ersten Schrecken angesichts der Preise, es wird schon gehn. - Ihr müßt ja bei diesen Preisen sehr gut auskommmen, noch immer Beengung?

Herzliche Grüße. Letzthin war Dr Kaznelson mit Frau bei mir, sie hat mir hübsch von Věra erzählt, merkwürdiger Weise hat auch sie im Anblick der Photographier [sic] gestockt und ein wenig Lust gehabt, die Fini für Dich zu halten. übrigens bekam sie einen Napfkuchen serviert, von dem sie ihrer Meinung zuviel aß, was sie damit entschuldigte, dass es eben Prager Kuchen sei, aber falsch es war berlin-polnisch-russischer Kuchen.

Von Klopstock hörst Du nichts? Er ist wohl in Budapest.

Eben jetzt abend kam Euer lieber gemeinsamer Brief, ich werde ihn nächstens beantworten.

Übrigens fällt mir ein, ob man nicht ein wenig Butter seien es auch immer nur paar kg hier mit Vorteil verkaufen könnte, bei der nächsten Sendung werden wir es versuchen.




Brief, 1 Blatt, 28,5 x 22 cm, beide Seiten mit Tinte beschrieben.

Undatiert; Zuordnung nach dem Inhalt des Briefes bestimmt (". . . vielen Dank für die Übersetzungen . . .", vgl. Nr. 11, Anm.4, und die Detailerwähnung der Verwechslung Finis mit Ottla, welche offenbar auch von der engen zeitlichen Anknüpfung an den Brief an Ottla in O, 152 zeugt, zu dessen Datierung vgl. Nr. 11, Anm.4).


1] D. : Dora Diamant, die Gefährtin der letzten Lebensmonate Kafkas.


2] "Die Not der Ausländer in Berlin": Vermutlich Hella Rohm (Berlin), Die armen Ausländer, in Berlin, in: Prager Tagblatt, Nr. 297, 21. Dezember 1923, S. 3.


3] die Verbilligung der Stadtbahnfahrt: Vgl. Nr. 10.


4] den Onkel: Vgl. Nr. 9, Anm. b.


5] Die Abgabe des einen Zimmers: Vgl. Nr. 4.


6] Euer Besuch: Zum Besuch der Eltern in Berlin kam es nicht (vgl. Nr. 3, Anm. 7).


7] dem Fräulein: Vgl. Nr. 3, Anm. 9.


8] Das Reformblatt: Das Reformblatt für Gesundheitspflege. Organ des Vereins für Naturheilkunde in Warnsdorf erschien seit 1897. Kafka hatte 1911 den Warnsdorfer Fabrikanten Moriz Schnitzer, den "Apostel der Naturheilkunde", kennengelernt, sich für dessen Heilmethode begeistert und sich die Zeitschrift, die Schnitzer herausgab, bestellt (Bi, 97). Er schickte das Blatt auch seiner Schwester (O, 72) und Robert Klopstock (Br, 367).


9] die Übersetzungen: Vgl. Nr. 11, Anm.4.


10] mit dem neuen Zimmerherrn: Gemeint ist Onkel Siegfried, vgl. Nr. 9, Anm. 6.


11] Pepa: Josef David (vgl. Nr. 6, Anm. 3) war sehr sportbegeistert; Siegfried Löwy hatte ihm offensichtlich einen Sportanzug geschenkt (und zuvor Věra ein Bilderbuch).


12] Věra: Vgl. Nr. 1, Anm.2.


13] auf Kerzenstümpfen: Die Kerzenstümpfe erwähnt er Anfang Januar 1924 noch einmal: "Kochen ist so leicht, um Sylvester herum gabs keinen Spiritus, trotzdem verbrühte ich mich fast beim Essen, es war auf Kerzenstümpfen gewärmt." (O, 153-154)


14] Dr Kaznelson mit Frau: Dr. Siegmund Kaznelson (1892-1959), in den Jahren 1913-1918 Herausgeber der Zeitschrift Selbstwehr; seine Frau Lise, vgl. Nr. 9, Anm. 7.


15] die Fini für Dich zu halten: Dieser Stelle geht ein Satz in einem Brief an Ottla (O, 152) voraus: "Und was Fini betrifft, so machte D. beim ersten flüchtigen Hinsehn die richtige Bemerkung, dass Du kaum wiederzuerkennen bist." Fini war Dienstmädchen bei der Familie David, das "Mädchen für die Kinder".


16] Klopstock: Robert Klopstock (1899-1972), Medizinstudent, später Arzt, mit dem Kafka während seines Kuraufenthaltes in der Tatra bekannt wurde; Kafkas Freund und Betreuer in Zeiten der sich verschlimmernden Krankheit.

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at