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[An die Eltern] E Nr. 11

[Berlin-Steglitz, 3.-4. Januar 1924]
 


Liebste Eltern, der große Brief ist also verloren gegangen, immer nur Deine großen Briefe, ich weiß nicht was die Post gegen mich hat. Dafür kam gestern die Karte und heute das Paket, vielen Dank für das Viele, Angekündigte und Geschickte. übel wurde vermerkt, dass die Sendung vor dem 10.Jänner kam, aber der Inhalt hat wieder versöhnt, tatsächlich aber habe ich noch von der alten Butter genug bis zum 10ten, sie hält jetzt sehr gut, man muß sie immer erst herausreißen aus ihrer Verfrorenheit hinter dem Fenster. Ja die Kälte ist kräftig, aber unter meiner ausgesuchten leichten und warmen Daunensteppdecke ist warm, manchmal gibt es sogar auf der Lehne eines Parkes hier in der Sonne einen warmen Augenblick und mit dem Rücken an der Centralheizung ist es auch recht gut, gar wenn man noch zum überfluß die Füße im Fußsack hat. Freilich in Euerem Zimmer am Ofen ist es auch schön (außer damals als Du Dich dort wärmtest vor der Operation). - Heute kam der Antwortbrief von der Anstalt, sehr freundlich mit netten Neujahrswünschen. Ich muß einen Vollmachtsbrief schicken, auch einen kleinen Dankbrief an den Direktor schicken, zwei kleine übersetzungenum die ich Pepa sehr bitte, sie sind auch der Anlaß der heutigen Briefverschwendung. - Übrigens zeigen sich jetzt nach Neujahr winzige Anzeichen einer Preisherabsetzung, wenn nur die politischen Dinge nicht wieder dazwischenfahren, wozu sie alle Lust zu haben scheinen. Die Stadtbahnfahrt nach dem Potsdamerplatz, die vor Neujahr 1 K 20 kostete, kostet jetzt 80 h, ein Liter Spiritus, vor Neujahr 6 K 40, kostet jetzt 3 K 60, weitere derartige Erscheinungen habe ich leider nicht beobachten können, aber auch diese erfreuen schon das geängstigte Herz, das ein Weilchen vorher bange geklopft hat vor dem ausgehängtenSpeisezettel eines Winkelrestaurants, in dem Wiener Schnitzel mit Spargel für 20 K angeboten waren. - Ich habe Elli vor einiger Zeit paar Adressen geschickt, für den Fall, dass sie etwas mit dem Jüdischen Frauenverband zu tun hat, der jetzt Liebesgabenpakete nach Deutschland schickt. Sie hat mir nicht geantwortet, wahrscheinlich hat sie mit dem Verband nichts zu tun. Ich habe letzthin ein solches Paket gesehn, groß und reichhaltig genug, eine wirklich ehrenwerte Leistung, aber doch trostlos, nur unbedingt notwendiges und gerade solches, das wie Gries, Mehl, Reis hier gewiß nicht teuerer ist als in Prag. Hätten sie doch von Euch gelernt Liebespakete zusammenzustellen, freilich Euere Recepte wären etwas zu teuer. - dass dem Onkel, der soviele Triescher Winter durchgemacht hat, der Prager Winter zu kalt ist, ist merkwürdig. Meran, das wäre nicht übel, vorläufig aber bleibe ich hier, aber sehr neugierig bin ich, wie die Verhältnisse dort sind. Sehr billig wird dort wohl jetzt nichts sein, denn da die Deutschen bei ihren Inlandspreisen jetzt sehr gut reisen können, werden sie gewiß, wie in Friedenszeiten Südtirol und den Gardasee überfüllen und die Leute dort, die solange eine gute Saison haben entbehren müssen, werden sich zu entschädigen suchen. Immerhin, spielen läßt sich mit dem Gedanken. Herzlichste Grüße und wärmt Euch schön bei einander /in welchem Zimmer sitzt Ihr am Abend?/

Euer F.




Brief, 1 Blatt, 22 x 14,2 cm, beide Seiten mit Tinte beschrieben.

Undatiert; Zuordnung nach dem Inhalt bestimmt ("Heute kam der Antwortbrief von der Anstalt..."): Der Brief von Dr. Odstrčil, die Antwort auf Kafkas Gesuch vom 20. Dezember 1923 wurde laut Archivunterlagen im LA PNP, FK am 31. Dezember 1923 geschrieben (vgl. auch L, 81) und am 2. Januar 1924 von Prag abgeschickt, traf also wahrscheinlich am 3. oder 4. Januar in Berlin ein. Nach dessen Erhalt schickt Kafka Ottla einen Brief mit dem Text zweier Dankschreiben an die Direktion der Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt sowie an Dr. Odstrčil und äußert die Bitte, Ottlas Ehemann Josef David möge ihn wie üblich ins Tschechische übersetzen (O, 147-151). Kafka sendet dann beide Briefe in tschechischem Wortlaut am 8. Januar 1924 von Berlin ab.


1] vor dem 20. Jänner: Vgl. Nr. 9 und 10.


2] damals . . . vor der Operation: Kafkas Mutter hatte sich ein Jahr vorher, wahrscheinlich im Januar 1923, einer schweren Operation unterziehen müssen.


3] der Antwortbrief von der Anstalt: Kafkas Gesuch vom 20. Dezember 1923 beantwortete Direktor Dr. Odstrčil am 31. Dezember:

"Herrn Dr. jur. Franz Kafka, Obersekretär i. R. der ArbeiterUnfall-Versicherungs-Anstalt für Böhmen in Prag, z. Zt. in Berlin-Steglitz.


In Bezug auf Ihren Brief vom 20. ds. Mts. teilen wir Ihnen mit, dass wir Ihrem Gesuch um Übersendung Ihrer Versorgungsbezüge unmittelbar an Ihre Herren Eltern gerne entsprechen, falls Sie eine ganz einfache Erklärung (ohne Wertmarke) übersenden, dass Sie Ihre Herren Eltern zu deren Annahme bevollmächtigen.

Außerdem senden Sie bitte jeden Monat auch für mehrere Monate - nach Ihrem Belieben - eine durch die dortige Polizeibehörde beglaubigte Lebensbescheinigung, die mit dem ersten Tag oder einem der folgenden Tage des Monats datiert sein muß, für den Ihnen die Pensionsbezüge angewiesen werden sollen.

Falls Sie sich jedoch auf Dauer in Deutschland oder sonstwo im Ausland niederlassen möchten, müßten Sie uns davon Kenntnis geben und um die weitere Auszahlung Ihrer ungekürzten Versorgungsbezüge ansuchen.

Gleichzeitig wünschen wir Ihnen, dass Ihr Gesundheitszustand sich im anstehenden neuen Jahr möglichst bessere und dass Ihr Aufenthalt am jetzigen Wohnort Ihnen wahrhaftig und dauerhaft von Nutzen sein möge.

Prag, den 31. Dezember 1923.


                  Direktor: Unterschrift

(Die Kopie dieses Briefes, Kafkas Gesuch unter lfd. Nr. 1152/ 1923 beigefügt, ist im LA PNP, FK, Karton-Nr. 2, hinterlegt.)

Zu Kafkas Gesuch vom 20. Dezember 1923 vgl. Nr. 2, Anm. 3, und Nr. 10, Anm.4.


4] zwei kleine Übersetzungen: Die Texte beider Briefe sind mit umfassender Erläuterung in Kafkas Brief an Ottla enthalten (O, 152-153), den Binder und Wagenbach mit "1. Januarwoche 1924" datieren, dessen Datum sich jetzt jedoch etwas genauer angeben läßt (3.-4. Januar 1924): "Der Brief der Anstalt, den ich Dir verdanke, ist sehr freundlich und gar nicht kompliciert, zwei kleine Übersetzungen sind notwendig, diese: "Im Sinne der geschätzten Zuschrift der löblichen Anstalt vom -, für die ich ergebenst danke, erkläre ich, dass ich meine Eltern Hermann und Julie Kafka bevollmächtige meine Pensionsbezüge in Empfang zu nehmen." Dann noch ein kleiner Dankbrief: "Sehr geehrter Herr Direktor, erlauben Sie mir noch, sehr geehrter Herr Direktor, für die günstige und so freundlich gefaßte Erledigung meines Ansuchens persönlich von Herzen zu danken, insbesondere auch für die liebenswürdige Aufnahme meiner Schwester und für die gütige Einsicht mit der Sie die nach außen hin vielleicht etwas sonderbare nach innen hin nur allzu wahre Geschichte meines letzten Jahres beurteilen.


Ihr herzlich ergebener"


Das wären die zwei Übersetzungen, sie sind nicht groß, nicht wahr? (dafür war allerdings die vorige wohl eine schreckliche Arbeit! Was soll ich aber armer Junge - das gilt sowohl mir als Pepa - jetzt tun, nachdem ich nun schon einmal die Lüge meines prachtvollen Tschechisch, eine Lüge, die wahrscheinlich niemand glaubt, in die Welt gesetzt habe) und da sie nicht groß sind, könnte ich sie bald haben?"

Beide Briefe in tschechischer Sprache, die Kafka am 8. Januar 1924 abschickte, sind abgedruckt bei L, 81, der Brief an Direktor Odstrčil auf Deutsch in nichtauthentischem Wortlaut, als Rückübersetzung aus dem Tschechischen, unter HE, 649, FKAS 321.

Zwischen dem deutschen Wortlaut, der in dem Brief an Ottla enthalten ist, und der tschechischen Fassung, die von Loužil abgedruckt wurde, gibt es kleinere Abweichungen: In dem Brief an die Direktion ist der tschechische Wortlaut umfangreicher, bei den Namen der Eltern ist deren Adresse ergänzt und der abschließende Satz hinzugefügt worden: "Eine amtlich beglaubigte Lebensbescheinigung sende ich regelmäßig zu." Die tschechische Fassung des Dankschreibens an den Direktor ist stilistisch abgeändert worden, die Übersetzer haben das Maß der Höflichkeit ein wenig zurückgenommen, hinsichtlich der Bedeutung gibt es keine Änderungen.


5] Pepa: Vgl. Nr. 6, Anm.3.


6] mit dem Jüdischen Frauenverband: Der Jüdische Frauenverband, 1912 als einer der jüdischen Vereine in Prag gegründet (vgl. z. B. BH I, 69), schickte in der Notzeit nach dem Ersten Weltkrieg Geschenkpäckchen für Arme und Waisen nach Deutschland. Zu Beginn des Jahres 1924 teilt Kafka Max Brod mit, er habe seiner Schwester Elli ein paar Adressen bedürftiger Menschen geschickt (BRK II, 451). In den Schriften des Jüdischen Frauenvereins, hinterlegt im Archiv der Hauptstadt Prag (Archivbestand Vereinskataster, Sign. XXII/216), gibt es jedoch weder auf die Versendung von Liebesgaben nach Deutschland noch auf die Tätigkeit einer Gabriele Hermann im Verein einen Hinweis.


7] Euere Recepte wären etwas zu teuer: Eine ähnliche Äußerung Kafkas über eins dieser Päckchen führt Brod in seiner biographischen Monographie an: "Da lag es nun vor uns, totenernst, ohne das geringste Lächeln eines Täfelchens Schokolade, eines Apfels oder dergleichen, so als ob es sagte: Jetzt lebe noch ein paar Tage von dem Grieß, Reis, Mehl, Zucker, Tee und Kaffee und dann stirb, wie es sein muß, mehr können wir nicht tun." (Bi, 176)


8] dem Onkel: Vgl. Nr. 9, Anm.6.


9] Meran: Kafka war dort von April bis Juni 1920 zu einem Kuraufenthalt.


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at