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Max Brod an Franz Kafka
[ Prag ]
Liebster Franz,
Deinen Roman habe ich Abend für Abend mit großer
Spannung gelesen, ausgelesen. Ich fand, dass ich mir schon lange so
eine Lektüre gewünscht habe, eine richtige Erzählung, die
einen aus den eigenen Sorgen herausnimmt. Aber es ist sonst alles (auch
Balzac, den ich anfieng) so fad. Nun kam dein Buch. Und ohne in die Tiefe
einzugehen, (weil du ja doch nicht froh wirst, wenn ich es in seinen Tiefen
loben würde) kann ich nur sagen, dass es ein sehr unterhaltendes
farbiges Buch ist, - die Szene im Schlitten traumhaft schön, -
die Sache mit dem Protokoll, wo einem plötzlich die Schuld
des "Ich" gezeigt wird, der bisher so unschuldig schien (nämlich
seine Schuld gegen Frieda), besonders gut, und merkwürdigerweise hast
du gerade diese Seiten gestrichen - aber ich nehme an, dass in dem
nächsten Heft (wie könnte ich es mir verschaffen? in deiner Wohnung
holen? ich brenne darauf) diese selbe Sache in veränderter Art, aber
dem Sinne nach gleich, zur Sprache kommen muß. -Bin sehr gespannt
und werde mich durch keinerlei Reden von dir abhalten lassen, das ganze
Werk dir abzuverlangen.
Ich gestehe aufrichtig, dass mir dein Roman
vielleicht nicht so leicht in die Seele gegangen wäre, hätte
ich nicht in dieser letzten Woche mit Emmy Glück gehabt. Am Anfang
der Woche! Bis Freitag. - Eine geniale Idee, da muß ich mich schon
wirklich loben, hatte mir einen so lieben raschen Brief verschafft. Es
kommt eben in der Liebe ganz ebenso darauf an, Einfälle zu haben,
wie im Schreiben. - Selten war ich auf etwas so stolz wie auf diesen Einfall.
Nämlich: ihre böse Schwester samt deren 5jährigem Sohn für
4-5 Tage nach Misdroy einzuladen. Daraufhin eben kam jener zärtliche
Begeisterungsbrief, in dem auch nicht der leiseste Schatten von Herrn
W zu bemerken war. - Aber Freitag wendete es sich und heute ist mir
nicht wohl zumute. Ein großer Skandal in ihrer Familie. Man wirft
ihr vor, dass sie "das Verhältnis eines reichen Juden"
sei, - sich von einem Kind habe helfen lassen. Merkwürdigerweise ist
sie nur gegen die letztere Lüge empört; die teilweise
Wahrheit der ersten Behauptung ist aber doch auch noch da und bedroht
mich, obwohl der Brief sich durchaus auf meine Seite stellt, an meiner
Schulter weint gegen die böse Welt. Ein veritabler Familienrat tritt
auf. - Leider las ich eben Hauptmanns "Anna",
wo genau dieselbe Situation (ohne Juden allerdings) so traurig endet, dass
ich den ganzen Tag und Abend bedrückt war von dem sonst herrlichen
Gedicht. -Wie wird das nun ausfallen? - Bisher waren ja alle Befürchtungen,
die ich bei solchen Anlässen hatte, grundlos. Aber ist es nicht grauenvoll,
dass ich es so schwer habe -
Unterbrechung: eben auf dem Heimwege traf ich die
Eltern von Felix, die aus Franzensbad kamen. Sie erzählten mir, dass
dein Vater überall von dir schwärmte und von seiner Freude, dass
Dr Herrmann dir genützt habe. "Seine Augen
leuchten, wenn er von seinem Sohn spricht" sagte Herr Weltsch.
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Nun noch die Mitteilung, dass von Lieschen,
der schönen Berliner Schwester, ein Brief kam. Sie hat nicht geantwortet,
weil sie unglücklich und dem Selbstmord nahe war. Aus Andeutungen
ist zu sehen, dass es die alte Geschichte mit dem hochstaplerischen
Dichter ist. Beinahe hätte ich dir diesen schönen Brief eines
deutschen Mädchens geschickt, - wegen der Ansicht, die sie vom Dichter
hat "er solle die Welt ordnen" u.s.f. Über W schreibt
sie mit entwaffnender Unschuld. Es habe sie gefreut, einen "so korrekten
echten Menschen" kennen zu lernen.
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Nochmals lesend finde ich, dass "Familienrat"
übertrieben ist. Das Arge dabei ist nur, dass es die letzte Woche
ist. Aber das ist doch auch wieder das Gute dabei. - Am 2. oder 3. will
ich abreisen.
Max
Quelle: Franz Kafka ; Max Brod: Eine Freundschaft (II). Briefwechsel. Hrsg. von Malcolm Pasley. Frankfurt am Main 1989.
Deinen Roman: "Das Schloß", siehe Anm. 40 oben.
Herrn W.: Siehe Brods Brief vom 13. August 1922.
Hauptmanns "Anna": Gerhart Hauptmann, Anna. Ein ländliches Liebesgedicht, Berlin: S. Fischer 1921.
Dr Herrmann: Brod bezieht sich wahrscheinlich auf das ärztliche Attest Dr. Otto Herrmanns vom 21. Juni 1922, in dem "eine gewisse Hoffnung auf Genesung und Rückkehr zur Arbeit" ausgesprochen wird, falls sich Kafka noch einer viermonatigen Kur unterzieht. (Dr. Herrmann hatte Kafka Ende Januar 1922 nach Spindelmühle begleitet.)
Letzte Änderung: 17.4.2009 | werner.haas@univie.ac.at |