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Max Brod an Franz Kafka

[ Prag ]

Monntag [24. 7.1922]
 

Liebster Franz,

Deinen Roman habe ich Abend für Abend mit großer Spannung gelesen, ausgelesen. Ich fand, dass ich mir schon lange so eine Lektüre gewünscht habe, eine richtige Erzählung, die einen aus den eigenen Sorgen herausnimmt. Aber es ist sonst alles (auch Balzac, den ich anfieng) so fad. Nun kam dein Buch. Und ohne in die Tiefe einzugehen, (weil du ja doch nicht froh wirst, wenn ich es in seinen Tiefen loben würde) kann ich nur sagen, dass es ein sehr unterhaltendes farbiges Buch ist, - die Szene im Schlitten traumhaft schön, - die Sache mit dem Protokoll, wo einem plötzlich die Schuld des "Ich" gezeigt wird, der bisher so unschuldig schien (nämlich seine Schuld gegen Frieda), besonders gut, und merkwürdigerweise hast du gerade diese Seiten gestrichen - aber ich nehme an, dass in dem nächsten Heft (wie könnte ich es mir verschaffen? in deiner Wohnung holen? ich brenne darauf) diese selbe Sache in veränderter Art, aber dem Sinne nach gleich, zur Sprache kommen muß. -Bin sehr gespannt und werde mich durch keinerlei Reden von dir abhalten lassen, das ganze Werk dir abzuverlangen.

    Ich gestehe aufrichtig, dass mir dein Roman vielleicht nicht so leicht in die Seele gegangen wäre, hätte ich nicht in dieser letzten Woche mit Emmy Glück gehabt. Am Anfang der Woche! Bis Freitag. - Eine geniale Idee, da muß ich mich schon wirklich loben, hatte mir einen so lieben raschen Brief verschafft. Es kommt eben in der Liebe ganz ebenso darauf an, Einfälle zu haben, wie im Schreiben. - Selten war ich auf etwas so stolz wie auf diesen Einfall. Nämlich: ihre böse Schwester samt deren 5jährigem Sohn für 4-5 Tage nach Misdroy einzuladen. Daraufhin eben kam jener zärtliche Begeisterungsbrief, in dem auch nicht der leiseste Schatten von Herrn W zu bemerken war. - Aber Freitag wendete es sich und heute ist mir nicht wohl zumute. Ein großer Skandal in ihrer Familie. Man wirft ihr vor, dass sie "das Verhältnis eines reichen Juden" sei, - sich von einem Kind habe helfen lassen. Merkwürdigerweise ist sie nur gegen die letztere Lüge empört; die teilweise Wahrheit der ersten Behauptung ist aber doch auch noch da und bedroht mich, obwohl der Brief sich durchaus auf meine Seite stellt, an meiner Schulter weint gegen die böse Welt. Ein veritabler Familienrat tritt auf. - Leider las ich eben Hauptmanns "Anna", wo genau dieselbe Situation (ohne Juden allerdings) so traurig endet, dass ich den ganzen Tag und Abend bedrückt war von dem sonst herrlichen Gedicht. -Wie wird das nun ausfallen? - Bisher waren ja alle Befürchtungen, die ich bei solchen Anlässen hatte, grundlos. Aber ist es nicht grauenvoll, dass ich es so schwer habe -

    Unterbrechung: eben auf dem Heimwege traf ich die Eltern von Felix, die aus Franzensbad kamen. Sie erzählten mir, dass dein Vater überall von dir schwärmte und von seiner Freude, dass Dr Herrmann dir genützt habe. "Seine Augen leuchten, wenn er von seinem Sohn spricht" sagte Herr Weltsch.

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    Nun noch die Mitteilung, dass von Lieschen, der schönen Berliner Schwester, ein Brief kam. Sie hat nicht geantwortet, weil sie unglücklich und dem Selbstmord nahe war. Aus Andeutungen ist zu sehen, dass es die alte Geschichte mit dem hochstaplerischen Dichter ist. Beinahe hätte ich dir diesen schönen Brief eines deutschen Mädchens geschickt, - wegen der Ansicht, die sie vom Dichter hat "er solle die Welt ordnen" u.s.f. Über W schreibt sie mit entwaffnender Unschuld. Es habe sie gefreut, einen "so korrekten echten Menschen" kennen zu lernen.

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    Nochmals lesend finde ich, dass "Familienrat" übertrieben ist. Das Arge dabei ist nur, dass es die letzte Woche ist. Aber das ist doch auch wieder das Gute dabei. - Am 2. oder 3. will ich abreisen.

Max        



Quelle: Franz Kafka ; Max Brod: Eine Freundschaft (II). Briefwechsel. Hrsg. von Malcolm Pasley. Frankfurt am Main 1989.


Deinen Roman: "Das Schloß", siehe Anm. 40 oben.


Herrn W.: Siehe Brods Brief vom 13. August 1922.


Hauptmanns "Anna": Gerhart Hauptmann, Anna. Ein ländliches Liebesgedicht, Berlin: S. Fischer 1921.


Dr Herrmann: Brod bezieht sich wahrscheinlich auf das ärztliche Attest Dr. Otto Herrmanns vom 21. Juni 1922, in dem "eine gewisse Hoffnung auf Genesung und Rückkehr zur Arbeit" ausgesprochen wird, falls sich Kafka noch einer viermonatigen Kur unterzieht. (Dr. Herrmann hatte Kafka Ende Januar 1922 nach Spindelmühle begleitet.)


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at