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Max Brod an Franz Kafka

[Prag]

Sonntag 3/4 [1921]
 

Liebster Franz,

Gestern erhielt ich endlich deine Karte. Auf deinen Wunsch berichte ich über mich:

    Heute habe ich zum viertenmal die "Buch"-Novelle, deren Grundidee ich dir einmal gesagt habe, begonnen. Vielleicht bin ich heute auf dem guten Weg. Aber jedenfalls habe ich mich seit 14 Tagen fürchterlich geschunden. Ich habe nun so viele Jahre lang (seit 1917) nichts Erzählendes geschrieben, dass ich gleichsam von vorn lerne. Nun, schaden kann das ja nichts. Daß du mir unendlich fehlst und jetzt gar, wo ich zu schreiben versuche und dir gleich jedes halbfertige Kapitel vorlesen möchte (du weißt, dass ich mich nur mit Gewalt davor zurückhalte), - na, es ist schon schrecklich. Ich habe ganz richtige Sehnsucht nach dir.

    Eine große Erleichterung ist es für mich, dass die Sache in Leipzig vorläufig wenigstens (ich habe Angst, es niederzuschreiben) das zu sein scheint, was ich seit Jahren vergebens gesucht habe. Die Tage in Leipzig (1½ Tage) waren wohl fast restlos glücklich, so weit es eben möglich ist, Glück zu empfinden. Wir machten einen Ausflug nach Halle, da Emmy doch ihre Verwandten in Leipzig hat und sich dort fürchtet. Ein Vormittagsspaziergang im Vorfrühling an der Saale - höher hinaus geht's nicht, dachte ich immer. Und was ich an dem einen Vormittag zusammengeschwatzt habe, das ist mir selbst unbegreiflich. Der Nachmittag im Hotel hatte ja sein Materiell-Getrübtes, aber ohne die heiße Luft, die aus dem Nachmittag in den kühl-sonnigen Vormittag wehte, wäre ja der Vormittag (für mich wenigstens) unmöglich so schön gewesen. Ich erkenne meine Grenzen, ich tobe nicht mehr gegen sie. - Und die Heimfahrt nach Leipzig. Es ereignete sich folgendes: der Zug der eine Stunde nach uns von Halle nach Leipzig fuhr, wurde von Kommunisten zur Entgleisung gebracht. Unter den Verunglückten: eine Pragerin. Ort des Unglücks: der Geburtsort meines Mädchens. - Von diesem merkwürdigen und vielleicht schauerlichen Ereignis erfuhr ich erst in Prag. Man darf es doch als eine Gnade Gottes auffassen, eine spezielle Gunstbezeugung mit Anspielungen auf uns? - Seither geht es mir sehr gut. Ich kann sagen, dass ich vielleicht noch nie im Leben so glücklich und ruhig war wie jetzt. Das ist ein großes Wort und ich habe Angst, es zu schreiben, denn ich bin abergläubisch, ein Dementi folgt immer. (NB. das sind übrigens lauter Beschwörungsformeln, wie ich eben bemerke), aber es ist nun einmal so. - Wenn mir nun auch noch die Novelle gelänge! - Mein Posten ist großartig. Ich gehe jeden Nachmittag hin, erscheine, wenn die andern sich ungefähr zum Weggehen rüsten. Von 5 bis ¾7 Abends etwa lese ich die Zeitungen, schreibe manchmal etwas, worüber man (der Chef) jedesmal in freudig-dankbares Erstaunen gerät. Es ist buchstäblich so, wie ich es dir schreibe. Ich kann es selbst nicht fassen, es ist mir manchmal unheimlich, ich warte auf das "dicke Ende", - es kommt keins. Ich gehe zweimal die Woche etwa ins Theater, schreibe für das "Prager Abendblatt" eine Kritik, - für ausländische Blätter habe ich während des ganzen März zweimal geschrieben und man war entzückt. Wenn es so bleibt, kann ich mir nichts Besseres wünschen. - Der ganze Vormittag ist mein! - Oskars Buch "Die neue Wirklichkeit" ist im Verlag von Otto Pick erschienen (er heißt Heris-Verlag). Ich habe es im "Prager Abendblatt" besprochen. Man kann nicht sagen, dass dieses tschechenfreundl. Propaganda ist, nichtwahr? Und so ist es mit allem. Hilars Regie im Coriolan habe ich neulich fürchterlich (mit Recht) verrissen. Man läßt mir die absoluteste Freiheit. Bisher ist auch kein Vorwurf von irgendeiner Seite gegen mich laut geworden, ich würde ihn auch nicht verdient haben - und das ist das Glückseligste dabei. - Ich glaube, so einen Brief habe ich dir noch nie geschrieben. Nur so geredet habe ich wohl, als ich damals aus Brünn kam. Damals war es ein kurzer Schein. - Und jetzt? - Ich hoffe und glaube!

    Oskar fährt vielleicht demnächst nach München und Berlin (Ewer-Vorlesung). - Über Felix habe ich für die Voss ein Feuilleton geschickt. Es ist ein Skandal, dass sein Buch noch gar nicht beachtet worden ist. Mit seiner Frau gierig es eine Zeit lang besser. Ich darf mich rühmen, dass ich ihm einen guten Rat gegeben habe. Gerade neuerdings aber scheint mein Mittel auch nicht mehr zu verfangen. - Wenn ich dir nun noch mitteile, dass ich mit meiner Frau besser stehe als jemals, dass Emmy ihre Studien erfolgreich in Leipzig wieder aufgenommen hat (sie hat jetzt gar keinen Posten, lebt bei der Schwester und ich zahle die Stunden, - nur etwas kränkelt sie, während sie seltsamerweise im anstrengenden Hoteldienst, unter ganz unmöglichen Nahrungs- und Wohnverhältnissen gesund war), so wirst du einsehen, dass der einzige dunkle Punkt meines Lebens deine Krankheit ist. Ich stelle absichtlich keine Detailfragen, hoffe aber, dass du mir, zur Belohnung auf dieses Memorandum mit einem ebenso genauen antworten wirst. -


Dein Max        


Ich beginne nun auch, Zweitdrucke von Oskar Baum im Pr. A. unterzubringen, vielleicht kann er dort Musikkritiker werden. Vielleicht, fast sicher wäre da auch ein Ämtchen für dich.


NB. Mein Gehalt ist klein, der alte Post-Gehalt, und das ist gut so. -



Quelle: Franz Kafka ; Max Brod: Eine Freundschaft (II). Briefwechsel. Hrsg. von Malcolm Pasley. Frankfurt am Main 1989.


die "Buch"-Novelle: Vermutlich die Arbeit, die als Franzi oder Eine Liebe zweiten Ranges. Ein Roman, München: Kurt Wolff 1922 erschienen ist.


das "Prager Abendblatt": Gemeinsame Abendausgabe der beiden deutschnationalen Prager Zeitungen, das Prager Tagblatt und die Deutsche Zeitung Bohemia (wie die Bohemia seit Ende 1914 geheißen hatte).


"Die neue Wirklichkeit": Oskar Baum, Die neue Wirklichkeit, Reichenberg: Heris-Verlag 1921.


Hilars: Karel Hugo Hilar (1885-1935), Regisseur des Prager Nationaltheaters von 1921 bis zu seinem Tode.


die Voss: Die angesehene Vossische Zeitung (Berlin).


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at