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Max Brod an Franz Kafka
[Prag]
Liebster Franz,
Gestern erhielt ich endlich deine Karte. Auf deinen Wunsch berichte ich
über mich:
Heute habe ich zum viertenmal die
"Buch"-Novelle, deren Grundidee ich dir einmal gesagt habe,
begonnen. Vielleicht bin ich heute auf dem guten Weg. Aber jedenfalls habe
ich mich seit 14 Tagen fürchterlich geschunden. Ich habe nun so viele
Jahre lang (seit 1917) nichts Erzählendes geschrieben, dass ich
gleichsam von vorn lerne. Nun, schaden kann das ja nichts. Daß du
mir unendlich fehlst und jetzt gar, wo ich zu schreiben versuche und dir
gleich jedes halbfertige Kapitel vorlesen möchte (du weißt,
dass ich mich nur mit Gewalt davor zurückhalte), - na, es ist
schon schrecklich. Ich habe ganz richtige Sehnsucht nach dir.
Eine große Erleichterung ist es für
mich, dass die Sache in Leipzig vorläufig wenigstens (ich habe
Angst, es niederzuschreiben) das zu sein scheint, was ich seit Jahren vergebens
gesucht habe. Die Tage in Leipzig (1½ Tage) waren wohl fast restlos
glücklich, so weit es eben möglich ist, Glück zu empfinden.
Wir machten einen Ausflug nach Halle, da Emmy doch ihre Verwandten in Leipzig
hat und sich dort fürchtet. Ein Vormittagsspaziergang im Vorfrühling
an der Saale - höher hinaus geht's nicht, dachte ich immer. Und was
ich an dem einen Vormittag zusammengeschwatzt habe, das ist mir selbst
unbegreiflich. Der Nachmittag im Hotel hatte ja sein Materiell-Getrübtes,
aber ohne die heiße Luft, die aus dem Nachmittag in den kühl-sonnigen
Vormittag wehte, wäre ja der Vormittag (für mich wenigstens)
unmöglich so schön gewesen. Ich erkenne meine Grenzen, ich tobe
nicht mehr gegen sie. - Und die Heimfahrt nach Leipzig. Es ereignete sich
folgendes: der Zug der eine Stunde nach uns von Halle nach Leipzig fuhr,
wurde von Kommunisten zur Entgleisung gebracht. Unter den Verunglückten:
eine Pragerin. Ort des Unglücks: der Geburtsort meines Mädchens.
- Von diesem merkwürdigen und vielleicht schauerlichen Ereignis erfuhr
ich erst in Prag. Man darf es doch als eine Gnade Gottes auffassen, eine
spezielle Gunstbezeugung mit Anspielungen auf uns? - Seither geht es mir
sehr gut. Ich kann sagen, dass ich vielleicht noch nie im Leben so
glücklich und ruhig war wie jetzt. Das ist ein großes Wort und
ich habe Angst, es zu schreiben, denn ich bin abergläubisch, ein Dementi
folgt immer. (NB. das sind übrigens lauter Beschwörungsformeln,
wie ich eben bemerke), aber es ist nun einmal so. - Wenn mir nun auch noch
die Novelle gelänge! - Mein Posten ist großartig. Ich gehe jeden
Nachmittag hin, erscheine, wenn die andern sich ungefähr zum Weggehen
rüsten. Von 5 bis ¾7 Abends etwa lese ich die Zeitungen, schreibe
manchmal etwas, worüber man (der Chef) jedesmal in freudig-dankbares
Erstaunen gerät. Es ist buchstäblich so, wie ich es dir schreibe.
Ich kann es selbst nicht fassen, es ist mir manchmal unheimlich, ich warte
auf das "dicke Ende", - es kommt keins. Ich gehe zweimal die
Woche etwa ins Theater, schreibe für das "Prager
Abendblatt" eine Kritik, - für ausländische Blätter
habe ich während des ganzen März zweimal geschrieben und man
war entzückt. Wenn es so bleibt, kann ich mir nichts Besseres wünschen.
- Der ganze Vormittag ist mein! - Oskars Buch "Die
neue Wirklichkeit" ist im Verlag von Otto Pick erschienen (er
heißt Heris-Verlag). Ich habe es im "Prager Abendblatt"
besprochen. Man kann nicht sagen, dass dieses tschechenfreundl. Propaganda
ist, nichtwahr? Und so ist es mit allem. Hilars Regie
im Coriolan habe ich neulich fürchterlich (mit Recht) verrissen. Man
läßt mir die absoluteste Freiheit. Bisher ist auch kein Vorwurf
von irgendeiner Seite gegen mich laut geworden, ich würde ihn auch
nicht verdient haben - und das ist das Glückseligste dabei. - Ich
glaube, so einen Brief habe ich dir noch nie geschrieben. Nur so geredet
habe ich wohl, als ich damals aus Brünn kam. Damals war es ein kurzer
Schein. - Und jetzt? - Ich hoffe und glaube!
Oskar fährt vielleicht demnächst nach
München und Berlin (Ewer-Vorlesung). - Über Felix habe ich für
die Voss ein Feuilleton geschickt. Es ist ein Skandal,
dass sein Buch noch gar nicht beachtet worden ist. Mit seiner Frau
gierig es eine Zeit lang besser. Ich darf mich rühmen, dass ich
ihm einen guten Rat gegeben habe. Gerade neuerdings aber scheint mein Mittel
auch nicht mehr zu verfangen. - Wenn ich dir nun noch mitteile, dass
ich mit meiner Frau besser stehe als jemals, dass Emmy ihre Studien
erfolgreich in Leipzig wieder aufgenommen hat (sie hat jetzt gar keinen
Posten, lebt bei der Schwester und ich zahle die Stunden, - nur etwas kränkelt
sie, während sie seltsamerweise im anstrengenden Hoteldienst, unter
ganz unmöglichen Nahrungs- und Wohnverhältnissen gesund war),
so wirst du einsehen, dass der einzige dunkle Punkt meines Lebens
deine Krankheit ist. Ich stelle absichtlich keine Detailfragen, hoffe aber,
dass du mir, zur Belohnung auf dieses Memorandum mit einem ebenso
genauen antworten wirst. -
Dein Max
Ich beginne nun auch, Zweitdrucke von Oskar Baum im Pr. A. unterzubringen,
vielleicht kann er dort Musikkritiker werden. Vielleicht, fast sicher wäre
da auch ein Ämtchen für dich.
NB. Mein Gehalt ist klein, der alte Post-Gehalt, und das ist gut so. -
Quelle: Franz Kafka ; Max Brod: Eine Freundschaft (II). Briefwechsel. Hrsg. von Malcolm Pasley. Frankfurt am Main 1989.
die "Buch"-Novelle: Vermutlich die Arbeit, die als Franzi oder Eine Liebe zweiten Ranges. Ein Roman, München: Kurt Wolff 1922 erschienen ist.
das "Prager Abendblatt": Gemeinsame Abendausgabe der beiden deutschnationalen Prager Zeitungen, das Prager Tagblatt und die Deutsche Zeitung Bohemia (wie die Bohemia seit Ende 1914 geheißen hatte).
"Die neue Wirklichkeit": Oskar Baum, Die neue Wirklichkeit, Reichenberg: Heris-Verlag 1921.
Hilars: Karel Hugo Hilar (1885-1935), Regisseur des Prager Nationaltheaters von 1921 bis zu seinem Tode.
die Voss: Die angesehene Vossische Zeitung (Berlin).
Letzte Änderung: 17.4.2009 | werner.haas@univie.ac.at |