Voriger Eintrag Jahresübersicht | IndexseiteNächster Eintrag

 

An Milena Jesenská

[Prag, September 1920]
 


Gewiß Milena Du hast hier in Prag einen Besitz, es macht Dir ihn auch niemand streitig, es wäre denn die Nacht, die kämpft um ihn, aber die kämpft um alles. Aber was ist das für ein Besitz! Ich verkleinere ihn nicht, etwas ist es, es ist sogar so groß, dass es einen Vollmond verfinstern könnte, oben in Deinem Zimmer. Und Du wirst Dich nicht fürchten vor soviel Dunkel? Dunkel ohne des Dunkels Wärme.



Damit Du etwas von meinen "Beschäftigungen" siehst, lege ich eine Zeichnung bei. Es sind 4 Pfähle, durch die zwei mittleren werden Stangen geschoben an denen die Hände des "Delinquenten" befestigt werden; durch die zwei äußern schiebt man Stangen für die Füße. Ist der Mann so befestigt, werden die Stangen langsam weiter hinausgeschoben, bis der Mann in der Mitte zerreißt. An der Säule lehnt der Erfinder und tut mit übereinandergeschlagenen Armen und Beinen sehr groß, so als ob das Ganze eine Originalerfindung wäre, während er es doch nur dem Fleischhauer abgeschaut hat, der das ausgeweidete Schwein vor seinem Laden ausspannt.


----------


Ich frage deshalb, ob Du dich nicht fürchten wirst, weil nämlich der, von dem Du schreibst, nicht existiert und nicht existiert hat, der in Wien hat nicht existiert, der in Gmünd auch nicht, aber dieser letztere noch eher und er soll verflucht sein. Das zu wissen ist deshalb wichtig, weil wenn wir zusammenkommen sollten, wieder der Wiener oder gar der Gmünder wieder auftreten wird, in aller Unschuld, als sei nichts geschehn, während unten der Wirkliche, allen und sich selbst unbekannt, noch weniger existierend als die andern, aber in seinen Machtäußerungen wirklicher als alles (warum steigt er denn nicht endlich selbst herauf und zeigt sich?) hinaufdrohen und wieder alles zerschlagen wird.




Die Zeichnung befindet sich auf einem dem Brief beigelegten Zettel, der offenbar von einer Heftseite abgerissen ist. Das Format des Zettels, der auf der Rückseite eine zum größten Teil unleserlich gemachte, wohl aus früherer Zeit stammende Beschriftung trägt, ist ca. 22,5 x 8 cm. Die Darstellungen der beiden Figuren befinden sich jeweils an den Schmalseiten. Aus technischen Gründen sind sie hier verkleinert wiedergegeben, und der Abstand zwischen ihnen wurde verringert.

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at