Voriger Eintrag Jahresübersicht | IndexseiteNächster Eintrag

 

An Milena Jesenská

[Prag, 20. September 1920]
Montag abend
 

Mittwoch gehst Du also auf die Post und es wird kein Brief dort sein - doch der von Samstag. Im Bureau konnte ich nicht schreiben weil ich arbeiten wollte und arbeiten konnte ich nicht weil ich an uns dachte. Am nachmittag konnte ich nicht aus dem Bett aufstehn, weil ich nicht zu müde sondern zu "schwer" war, immer wieder dieses Wort, es ist das einzige das für mich paßt, verstehst Du es eigentlich? Es ist etwa die "Schwere" eines Schiffes, das das Steuer verloren hat und das zu den Wellen sagt: "Für mich bin ich zu schwer, für Euch zu leicht. " Aber auch so ist es nicht ganz, Vergleiche können es nicht ausdrükken.

Aber im Grunde habe ich deshalb nicht geschrieben, weil ich das unklare Gefühl habe, ich hätte Dir so viel und so äußerst wichtiges zu schreiben, dass keine noch so freie Zeit frei genug wäre alle Kräfte dafür zusammenzufassen. So ist es auch.

Und da ich von der Gegenwart nichts sagen kann, um wie viel weniger von der Zukunft. Ich bin wirklich erst jetzt förmlich aus dem Krankenbett gestiegen (" Krankenbett" von außen gesehn) halte mich noch daran und möchte am liebsten wieder zurück. Trotzdem ich weiß, was es bedeutet, dieses Bett.

Was Du Milena von den Leuten schriebst, nemáte sily milovat [ sie haben keine Kraft zu lieben ], war richtig, auch wenn Du es beim Niederschreiben nicht für richtig gehalten hast. Vielleicht besteht ihre Liebeskraft nur darin, geliebt werden zu können. Und auch darin gibt es noch für diese Leute eine abschwächende Unterscheidung. Wenn einer von ihnen zu seiner Geliebten sagt: "Ich glaube es, dass Du mich liebst" so ist das etwas ganz anderes und viel geringeres als wenn er sagt: "Ich werde von Dir geliebt." Aber das sind ja keine Liebenden, das sind Grammatiker.

"Unvollkommenheit zu zweit" war doch ein Mißverständnis in Deinem Brief. Ich hatte damit nichts weiter sagen wollen, als: ich lebe in meinem Schmutz, das ist meine Sache. Dich aber noch mit hineinziehn, das ist etwas ganz anderes, nicht etwa nur als Vergehn an Dir, das ist das nebensächlichere, ich glaube nicht, dass mir ein Vergehn an einem andern, soweit es nur den andern betrifft, den Schlaf stören könnte. Das ist es also nicht. Das Schreckliche ist vielmehr, dass ich mir an Dir meines Schmutzes viel bewußter werde und vor allem - dass mir dadurch die Rettung so viel schwieriger, nein, so viel unmöglicher wird (unmöglich ist es in jedem Fall, aber hier steigert sich das Unmögliche). Das bringt den Angstschweiß auf die Stirn; von einer Schuld, die Du Milena hättest, ist nicht die Rede.

Falsch aber war es und ich habe es sehr bereut, dass ich im letzten Brief Vergleiche gemacht habe mit früheren Dingen. Das streichen wir gemeinsam.


---------


Du bist also wirklich nicht krank?




1] "Unvollkommenheit zu zweit": Vgl. Brief vom [14. September 1920], S. 263.

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at