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[An Ottla Kafka]
Liebe Ottla, es war also nur der eine Abend, er wird wiederkommen, aber
ich fürchte nicht für Dich.
Zu Deinem Brief schreibe ich nächstens, heute nur zu Deiner Anfrage
wegen der Redeübung, weil das eilt.
Also was ich im Augenblick, aufs Geratewohl, vorläufig sagen kann:
Zunächst scheint es mir als Vorbereitung für die Redeübung
die unglücklichste Geistesverfassung, wenn man "aus meinem Kopf
allein nichts nützliches fertig bringen" zu können glaubt.
Das ist doch ganz und gar falsch, Du hast einfach etwas derartiges noch
nicht gemacht und deshalb zögerst Du; wagst Du aber den Sprung über
Deinen Schatten - etwas ähnliches ist jedes selbständige Denken
- wirst Du ausgezeichnet hinüberkommen, trotzdem es eine nachweisbare
Unmöglichkeit ist.
Ich sehe zwei Hauptmöglichkeiten von Vortragsthemen für Dich,
sehr persönliche und sehr allgemeine, wobei natürlich die erstern
auch allgemein, die letzteren auch persönlich sind und ich diese Einteilung
überhaupt nur mache, um Dir vielleicht einen ersten Einblick zu verschaffen,
nach dem Du ganz selbständig das für Dich passende herausholen
kannst.
Die sehr persönlichen Themen sind gewiß die verdienstvollsten
schon weil sie die ergiebigsten und kühnsten sind. Sie sind insofern
nicht die schwierigsten, weil sie wenig Studium sondern nur Nachdenken
voraussetzen, sind aber doch die schwierigsten, weil sie ein f a s t
ü b e r m e n s c h l i c h e s
M a ß v o n Z a r t h e i t,
B e s c h e i d e n h e i t
und Sachlichkeit (und wahrscheinlich noch anderes, was mir gerade
nicht einfällt) verlangen.
Ein solches Thema wäre z. B. "Mädchen unter Jungen"
soweit es sich auf die Friedländer Schule bezieht. Du hättest
Deine und als Hinterlassenschaft der F., ihre Erfahrungen darzustellen,
in Folgerungen, die Du daraus ziehst, Dich zu wehren oder zu beschuldigen,
Gutes und Schlechtes zu sondern, Mittel zu suchen, das Erste zu stärken,
das zweite zurückzudrängen u.s.w. Zeitgemäß wäre
der Vortrag als Vortrag des ersten Mädchens im ersten Jahr der allgemeinen
Zulassung der Mädchen zum Studium, besonders da diese Zulassung jetzt
wahrscheinlich überall dauernd und grenzenlos sein wird. Förster
könnte Dir bei dem Vortrag helfen.
Ein zweites Thema dieser Art, nur noch heikler, wäre "Schüler
und Lehrer" wieder nur hinsichtlich Deiner Schule. Es wären
Deine Erfahrungen als Schülerin, eine Art Versöhnungsfest zwischen
Schülern und Lehrern. Also Aufzählung dessen wovon Du und Deiner
Beobachtung nach andere den größten Vorteil beim Unterricht
gehabt haben, welche Methoden vorzüglich, welche gut und welche nicht
ganz gut waren und wie und mit welchen, vorzüglichen, guten und weniger
guten Methoden die Schüler sich demgegenüber verhalten haben.
Immer möglicht viele Tatsachen, möglichst viel Wahrheit, möglichst
wenig Selbstgerechtigkeit.
Ein drittes Thema, weniger heikel und noch persönlicher: "Meine
Vorschulerfahrungen bei einer Wirtschaftsführung". Die Zürauer
Erfahrungen, also etwa: warum Du aus der Stadt fort mußtest, wie
der Stand der Wirtschaft bei der Übernahme war, was für Fehler
Du machtest, wo Dir die Schule fehlte, wo sie Dir nicht fehlte, was
Du an den Bauern bewunderst und nicht bewunderst, wie
Du Dich jetzt zu diesen Bewunderungen stellst, was für Erfahrungen
Du mit Deinen Untergebenen machtest, worin Du es zu leicht
hattest, worin zu schwer, in welchem Zustand Du die Wirtschaft übergabst.
Dann gibt es mittlere Themen nicht sehr persönlich, nicht sehr allgemein;
die sind meiner Meinung nach die unratsamsten, man gerät dabei zu
leicht in Allgemeinheiten, aber dagegen kann man sich ja wehren. So wären
die von Dir vorgeschlagenen reinen Försterthemen, so auch das unendliche
allerdings viel weniger allgemeine Thema des Judentums,
dem Du aber gerne ausweichen wirst. ("Die Heirat Deiner Schwester
geht mir nicht aus dem Kopf" schreibt mir heute Max) Dann aber z.
B. noch ein ausgezeichnetes Thema: "Die Zukunft der Absolventen, die nicht
selbständige Landwirte sind" da wäre über Stellenvermittlung
zu sprechen, Inseratenwesen, Prüfungen, Siedlungsgenossenschaften
u.s.w. Da man jedenfalls sich wegen des Vortrags mit dem Lehrer beraten
kann, Bücher von ihm zu dem Zweck ausleihen kann u.s.w. so hättest
Du eine gute Gelegenheit anläßlich dieser sachlichen Beratungen
Dich auch über Deine Zukunft deutlicher mit den Herren, etwa auch
mit dem Direktor (über den Du übrigens eine scheinbar sehr richtige
Bemerkung machst) zu unterhalten.
Schließlich kämen die allgemeinen Themen, die ja wohl nur Berichte
über Bücher sein können, da würde ich vor allem Damaschke "Bodenreform" das gewiß dort
zu haben ist, empfehlen. Jedenfalls aber braucht die Vorbereitung eines
solchen Vortrages, sei er auch ganz klein, viel Zeit. Laß ihn möglichst
weit verschieben und schreib mir noch darüber.
Alles Gute!
Franz
Redeübung: Ottla an David am 16. II. 1919:
"In vierzehn Tagen soll ich in der Schule einen Vortrag halten und
vielleicht werde ich ihn Nachmittag in Angriff nehmen." Vgl. KO 428
ff.
Förster: Gemeint ist Friedrich Wilhelm Foersters
Jugendlehre. Ein Buch für Eltern, Lehrer und Geistliche, 41.-45.
Tsd., Berlin 1909. Kafka hatte dieses Werk im Zusammenhang mit der Tätigkeit
Felice Bauers im Berliner Jüdischen Volksheim kennengelernt, stand
den hier vertretenen Erziehungsgrundsätzen aber recht distanziert
gegenüber. (Vgl. F 701 und Br 208 f.) Die Themenvorschläge, die
Kafka macht, sind von diesem Buch beeinflußt. (Vgl. T 512: "Foerster:
Die Behandlung der im Schulleben enthaltenen menschlichen Beziehungen zu
einem Gegenstand des Unterrichts machen.")
möglichst wenig Selbstgerechtigkeit: Selbstgefälligkeit
hielt Kafka für eine der Hauptschwächen seiner Schwester. (Vgl.
F 732)
was Du an den Bauern bewundertest: Ottla am 15.
III. 1918 an David über die Familie Riedl: "er ist der beste
Bauer aus unserem Dorf, und wenn ich mit ihm spreche, so lerne ich immer
etwas dazu und ich freue mich, wenn ich ihm begegne. Sein Sohn ist auf
Urlaub und arbeitet mit dem Vater, die Frau ist eine sehr gute Hausfrau,
und alle arbeiten gerne und darum ist ihre Landwirtschaft so schön."
wie Du Dich jetzt zu diesen Bewunderungen stellst:
Vgl. Nr. 57.
mit Deinen Untergebenen: Vgl. die Anmerkungen zu
Nr. 53.
Thema des Judentums, dem Du aber gerne ausweichen wirst:
Der Freund Ottlas, Dr. Josef David, war Tscheche und Christ; darauf bezieht
sich auch die Bemerkung von Max Brod, der nationaljüdisch dachte.
Damaschke "Bodenreform": Adolf Damaschke,
Die Bodenreform, Jena 1902. Das Buch ("Grundsätzliches und Geschichtliches
zur Erkenntnis und Überwindung der sozialen Not") war damals
in zahlreichen Auflagen verbreitet.
Letzte Änderung: 17.4.2009 werner.haas@univie.ac.at