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[An Ottla Kafka]

[Stempel: Liboch - 5. 2. 19]
 


Liebe Ottla, es war also nur der eine Abend, er wird wiederkommen, aber ich fürchte nicht für Dich.

Zu Deinem Brief schreibe ich nächstens, heute nur zu Deiner Anfrage wegen der Redeübung, weil das eilt.

Also was ich im Augenblick, aufs Geratewohl, vorläufig sagen kann: Zunächst scheint es mir als Vorbereitung für die Redeübung die unglücklichste Geistesverfassung, wenn man "aus meinem Kopf allein nichts nützliches fertig bringen" zu können glaubt. Das ist doch ganz und gar falsch, Du hast einfach etwas derartiges noch nicht gemacht und deshalb zögerst Du; wagst Du aber den Sprung über Deinen Schatten - etwas ähnliches ist jedes selbständige Denken - wirst Du ausgezeichnet hinüberkommen, trotzdem es eine nachweisbare Unmöglichkeit ist.

Ich sehe zwei Hauptmöglichkeiten von Vortragsthemen für Dich, sehr persönliche und sehr allgemeine, wobei natürlich die erstern auch allgemein, die letzteren auch persönlich sind und ich diese Einteilung überhaupt nur mache, um Dir vielleicht einen ersten Einblick zu verschaffen, nach dem Du ganz selbständig das für Dich passende herausholen kannst.

Die sehr persönlichen Themen sind gewiß die verdienstvollsten schon weil sie die ergiebigsten und kühnsten sind. Sie sind insofern nicht die schwierigsten, weil sie wenig Studium sondern nur Nachdenken voraussetzen, sind aber doch die schwierigsten, weil sie ein   f a s t   ü b e r m e n s c h l i c h e s   M a ß   v o n   Z a r t h e i t,   B e s c h e i d e n h e i t   und Sachlichkeit (und wahrscheinlich noch anderes, was mir gerade nicht einfällt) verlangen.

Ein solches Thema wäre z. B. "Mädchen unter Jungen" soweit es sich auf die Friedländer Schule bezieht. Du hättest Deine und als Hinterlassenschaft der F., ihre Erfahrungen darzustellen, in Folgerungen, die Du daraus ziehst, Dich zu wehren oder zu beschuldigen, Gutes und Schlechtes zu sondern, Mittel zu suchen, das Erste zu stärken, das zweite zurückzudrängen u.s.w. Zeitgemäß wäre der Vortrag als Vortrag des ersten Mädchens im ersten Jahr der allgemeinen Zulassung der Mädchen zum Studium, besonders da diese Zulassung jetzt wahrscheinlich überall dauernd und grenzenlos sein wird. Förster könnte Dir bei dem Vortrag helfen.

Ein zweites Thema dieser Art, nur noch heikler, wäre "Schüler und Lehrer" wieder nur hinsichtlich Deiner Schule. Es wären Deine Erfahrungen als Schülerin, eine Art Versöhnungsfest zwischen Schülern und Lehrern. Also Aufzählung dessen wovon Du und Deiner Beobachtung nach andere den größten Vorteil beim Unterricht gehabt haben, welche Methoden vorzüglich, welche gut und welche nicht ganz gut waren und wie und mit welchen, vorzüglichen, guten und weniger guten Methoden die Schüler sich demgegenüber verhalten haben. Immer möglicht viele Tatsachen, möglichst viel Wahrheit, möglichst wenig Selbstgerechtigkeit.

Ein drittes Thema, weniger heikel und noch persönlicher: "Meine Vorschulerfahrungen bei einer Wirtschaftsführung". Die Zürauer Erfahrungen, also etwa: warum Du aus der Stadt fort mußtest, wie der Stand der Wirtschaft bei der Übernahme war, was für Fehler Du machtest, wo Dir die Schule fehlte, wo sie Dir nicht fehlte, was Du an den Bauern bewunderst und nicht bewunderst, wie Du Dich jetzt zu diesen Bewunderungen stellst, was für Erfahrungen Du mit Deinen Untergebenen machtest, worin Du es zu leicht hattest, worin zu schwer, in welchem Zustand Du die Wirtschaft übergabst.

Dann gibt es mittlere Themen nicht sehr persönlich, nicht sehr allgemein; die sind meiner Meinung nach die unratsamsten, man gerät dabei zu leicht in Allgemeinheiten, aber dagegen kann man sich ja wehren. So wären die von Dir vorgeschlagenen reinen Försterthemen, so auch das unendliche allerdings viel weniger allgemeine Thema des Judentums, dem Du aber gerne ausweichen wirst. ("Die Heirat Deiner Schwester geht mir nicht aus dem Kopf" schreibt mir heute Max) Dann aber z. B. noch ein ausgezeichnetes Thema: "Die Zukunft der Absolventen, die nicht selbständige Landwirte sind" da wäre über Stellenvermittlung zu sprechen, Inseratenwesen, Prüfungen, Siedlungsgenossenschaften u.s.w. Da man jedenfalls sich wegen des Vortrags mit dem Lehrer beraten kann, Bücher von ihm zu dem Zweck ausleihen kann u.s.w. so hättest Du eine gute Gelegenheit anläßlich dieser sachlichen Beratungen Dich auch über Deine Zukunft deutlicher mit den Herren, etwa auch mit dem Direktor (über den Du übrigens eine scheinbar sehr richtige Bemerkung machst) zu unterhalten.

Schließlich kämen die allgemeinen Themen, die ja wohl nur Berichte über Bücher sein können, da würde ich vor allem Damaschke "Bodenreform" das gewiß dort zu haben ist, empfehlen. Jedenfalls aber braucht die Vorbereitung eines solchen Vortrages, sei er auch ganz klein, viel Zeit. Laß ihn möglichst weit verschieben und schreib mir noch darüber.

Alles Gute!

Franz




Redeübung: Ottla an David am 16. II. 1919: "In vierzehn Tagen soll ich in der Schule einen Vortrag halten und vielleicht werde ich ihn Nachmittag in Angriff nehmen." Vgl. KO 428 ff.


Förster: Gemeint ist Friedrich Wilhelm Foersters Jugendlehre. Ein Buch für Eltern, Lehrer und Geistliche, 41.-45. Tsd., Berlin 1909. Kafka hatte dieses Werk im Zusammenhang mit der Tätigkeit Felice Bauers im Berliner Jüdischen Volksheim kennengelernt, stand den hier vertretenen Erziehungsgrundsätzen aber recht distanziert gegenüber. (Vgl. F 701 und Br 208 f.) Die Themenvorschläge, die Kafka macht, sind von diesem Buch beeinflußt. (Vgl. T 512: "Foerster: Die Behandlung der im Schulleben enthaltenen menschlichen Beziehungen zu einem Gegenstand des Unterrichts machen.")


möglichst wenig Selbstgerechtigkeit: Selbstgefälligkeit hielt Kafka für eine der Hauptschwächen seiner Schwester. (Vgl. F 732)


was Du an den Bauern bewundertest: Ottla am 15. III. 1918 an David über die Familie Riedl: "er ist der beste Bauer aus unserem Dorf, und wenn ich mit ihm spreche, so lerne ich immer etwas dazu und ich freue mich, wenn ich ihm begegne. Sein Sohn ist auf Urlaub und arbeitet mit dem Vater, die Frau ist eine sehr gute Hausfrau, und alle arbeiten gerne und darum ist ihre Landwirtschaft so schön."


wie Du Dich jetzt zu diesen Bewunderungen stellst: Vgl. Nr. 57.


mit Deinen Untergebenen: Vgl. die Anmerkungen zu Nr. 53.


Thema des Judentums, dem Du aber gerne ausweichen wirst: Der Freund Ottlas, Dr. Josef David, war Tscheche und Christ; darauf bezieht sich auch die Bemerkung von Max Brod, der nationaljüdisch dachte.


Damaschke "Bodenreform": Adolf Damaschke, Die Bodenreform, Jena 1902. Das Buch ("Grundsätzliches und Geschichtliches zur Erkenntnis und Überwindung der sozialen Not") war damals in zahlreichen Auflagen verbreitet.


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at