Voriger Eintrag Jahresübersicht | IndexseiteNächster Eintrag

Max Brod an Franz Kafka

1.II.1919

[Prag]


Lieber Franz,

Warum ohne Nachricht von dir? - Ich bin immer noch so in Bewegung wie seit Oktober, aber ich fürchte, die Bewegung wird langsam leer. Du solltest mich nicht so ganz meinem Schicksal überlassen und dich ein wenig meiner Seele annehmen, die politisch verroht. - Es klingt z. B. großartig, dass diesen Montag der englische Gesandte zum Thee bei mir war, aber über eine gewisse oberflächliche Interessantheit kommt es dabei nicht hinaus und auch die gräbt sich nicht tief genug in mich ein. Die Wirkung auf politische Erfolge enttäuscht fast immer, alles geht ohne Entscheidung weiter. Meine einzige Sehnsucht in dieser Beziehung, dem jüdischen Volk klare Verhältnisse zu schaffen, scheint nicht in Erfüllung zu gehen, - weil eben selbst Teilerfolge wie die in der letzten "Selbstwehr" ausgewiesenen an der allgemeinen Indolenz nichts ändern. So ist es nur die Angst um das Volk, die mich weitertreibt. Heute z. B. träumte ich, dass ich in einer Schule war, wo ostjüdische Kinder, Mädchen u. Knaben, von Mönchen unterrichtet werden. Auf einem freien Hofe stellten sie eine Sukkah auf. Dann sangen einzelne wie bei einer Prüfung jiddische Volkslieder. Ein Mädchen zeigte ein sauberes dickes Schreibbuch über Buchhaltungsaufgaben. Ich dankte den Geistlichen (innerlich) und freute mich, dass die Kinder zum praktischen Leben ausgebildet werden, zugleich mit Bewahrung ihres Volkstums. Da fragte ich einen schwarzlockigen Burschen: Und wo hält ihr in Religion? Er sagte zuerst, dass sie keine Rel. lernen, - dann aber zeigte er ein schwarzes Buch mit goldgepreßtem Kreuz auf dem Einband. Alle Kinder hier waren getauft, alle. Ich warf mich auf die Erde und weinte so heftig, dass ich davon erwachte. -

    Nebenbei bemerkt: die Heirat deiner Schwester geht mir nicht aus dem Kopf. - Und andere Sorgen: In Wien wählen die Poale-Zion sozialistisch-deutsch gegen den Nationalrat, in dem sie sitzen. Bundisten gegen Palästina. Palästina überhaupt unklar. Die Orthodoxie hat einen eigenen Kongreß in der Schweiz, um sich gegen die Zionisten zu stellen. - Der Prager Nationalrat ist der einzige, in dem bisher ein Kampf zwischen Zion., Orth. und Poale-Z. verhindert worden ist. Ich darf sagen, dass das mein Verdienst ist. - Aber welche Mühe!

    Nun hätte ich noch mehr zu erzählen als Zeit. Aber du? Du hast doch gewiß Zeit. Soll ich glauben, dass dein langes Schweigen auf körperliches oder seelisches Übelbefinden zurückzuführen ist????

Dein Max        

Liest du die Selbstwehr??



Quelle: Franz Kafka ; Max Brod: Eine Freundschaft (II). Briefwechsel. Hrsg. von Malcolm Pasley. Frankfurt am Main 1989.


in der letzten "Selbstwehr": Die Selbstwehr vom 31. Januar 1919 berichtete ausführlich über Sympathieerklärungen Masaryks und anderer Minister für Zionismus und nationales Judentum.


Sukkah: Sukka, Bezeichnung der Laubhütte (des für die Tage des Sukkotfestes vorgeschriebenen Aufenthaltes).


Heirat deiner Schwester: Ottla Kafka wollte Dr. Josef David (1891-1962), einen nationalgesinnten Tschechen katholischer Konfession heiraten, was Brod - wie übrigens ihre Eltern - für bedenklich hielt. Vgl. O 65. Die Heirat fand erst am 15. Juli 1920 statt.


Poale-Zion: "Arbeiter Zions", die 1900 gegründete Zionistisch-Sozialistische Arbeiterpartei.


Nationalrat: Siehe 1918 Anm. 85.


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at