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Max Brod an Franz Kafka
[Prag]
Warum ohne Nachricht von dir? - Ich bin immer noch so in Bewegung wie seit
Oktober, aber ich fürchte, die Bewegung wird langsam leer. Du solltest
mich nicht so ganz meinem Schicksal überlassen und dich ein wenig
meiner Seele annehmen, die politisch verroht. - Es klingt z. B. großartig,
dass diesen Montag der englische Gesandte zum Thee bei mir war, aber
über eine gewisse oberflächliche Interessantheit kommt es dabei
nicht hinaus und auch die gräbt sich nicht tief genug in mich ein.
Die Wirkung auf politische Erfolge enttäuscht fast immer, alles geht
ohne Entscheidung weiter. Meine einzige Sehnsucht in dieser Beziehung,
dem jüdischen Volk klare Verhältnisse zu schaffen, scheint
nicht in Erfüllung zu gehen, - weil eben selbst Teilerfolge wie die
in der letzten "Selbstwehr" ausgewiesenen an der allgemeinen
Indolenz nichts ändern. So ist es nur die Angst um das Volk, die mich
weitertreibt. Heute z. B. träumte ich, dass ich in einer Schule
war, wo ostjüdische Kinder, Mädchen u. Knaben, von Mönchen
unterrichtet werden. Auf einem freien Hofe stellten sie eine Sukkah
auf. Dann sangen einzelne wie bei einer Prüfung jiddische Volkslieder.
Ein Mädchen zeigte ein sauberes dickes Schreibbuch über Buchhaltungsaufgaben.
Ich dankte den Geistlichen (innerlich) und freute mich, dass die Kinder
zum praktischen Leben ausgebildet werden, zugleich mit Bewahrung ihres
Volkstums. Da fragte ich einen schwarzlockigen Burschen: Und wo hält
ihr in Religion? Er sagte zuerst, dass sie keine Rel. lernen, - dann
aber zeigte er ein schwarzes Buch mit goldgepreßtem Kreuz auf dem
Einband. Alle Kinder hier waren getauft, alle. Ich warf mich auf die Erde
und weinte so heftig, dass ich davon erwachte. -
Nebenbei bemerkt: die Heirat deiner
Schwester geht mir nicht aus dem Kopf. - Und andere Sorgen: In Wien
wählen die Poale-Zion sozialistisch-deutsch gegen
den Nationalrat, in dem sie sitzen. Bundisten gegen Palästina.
Palästina überhaupt unklar. Die Orthodoxie hat einen eigenen
Kongreß in der Schweiz, um sich gegen die Zionisten zu stellen. -
Der Prager Nationalrat ist der einzige, in dem bisher ein Kampf zwischen
Zion., Orth. und Poale-Z. verhindert worden ist. Ich darf sagen, dass
das mein Verdienst ist. - Aber welche Mühe!
Nun hätte ich noch mehr zu erzählen als
Zeit. Aber du? Du hast doch gewiß Zeit. Soll ich glauben, dass
dein langes Schweigen auf körperliches oder seelisches Übelbefinden
zurückzuführen ist????
Dein Max
Liest du die Selbstwehr??
Lieber Franz,
Quelle: Franz Kafka ; Max Brod: Eine Freundschaft (II). Briefwechsel. Hrsg. von Malcolm Pasley. Frankfurt am Main 1989.
in der letzten "Selbstwehr": Die Selbstwehr vom 31. Januar 1919 berichtete ausführlich über Sympathieerklärungen Masaryks und anderer Minister für Zionismus und nationales Judentum.
Sukkah: Sukka, Bezeichnung der Laubhütte (des für die Tage des Sukkotfestes vorgeschriebenen Aufenthaltes).
Heirat deiner Schwester: Ottla Kafka wollte Dr. Josef David (1891-1962), einen nationalgesinnten Tschechen katholischer Konfession heiraten, was Brod - wie übrigens ihre Eltern - für bedenklich hielt. Vgl. O 65. Die Heirat fand erst am 15. Juli 1920 statt.
Poale-Zion: "Arbeiter Zions", die 1900 gegründete Zionistisch-Sozialistische Arbeiterpartei.
Nationalrat: Siehe 1918 Anm. 85.
Letzte Änderung: 17.4.2009 | werner.haas@univie.ac.at |