Voriger Eintrag Jahresübersicht | IndexseiteNächster Eintrag

 

[An Ottla Kafka: Postkarte]

[Schelesen, 11. Dezember 1918]
 


Liebe Ottla, das ist schlimm; wenn schon eine kleine Karte Dich im Lernen stört, wie erst die andern Briefe. Übrigens war die Karte hauptsächlich für den nervösen Professor bestimmt. -Über den damaligen Abend hast Du ja andere Berichte, er verlief meinem Gefühl nach großartig leicht und selbstverständlich, kein Herz schien eine Last zu tragen. Heute abend, Mittwoch, soll nach Mutters Brief eine neue große Zusammenkunft sein. Weihnachten komme ich also, es geht mir ja sehr gut, wenn ich auch immerhin ein etwas schwächerer Atmer und stärkerer Herzklopfer geworden bin. - Die Grüße des Frl. F. freuen mich sehr. Ich habe seit Deinen Beschreibungen - vermischt mit dem leichten Fieber, das ich damals hatte -, eine hohe Vorstellung von ihr behalten. Vielleicht wäre sie übrigens so freundlich mir auf Deiner nächsten Karte ein paar möglichst unbeeinflußte Worte über Deine Fortschritte zu schreiben. - Was bedeutet das: "Essen suchen"? Schade, auf meinem Tisch wäre manches zu finden. Statt dessen aber mache ich folgendes:

[Zeichnung], um Dir wieder eine Lehrstunde zu verderben.

Franz




Datierung: Der 11. Dezember fiel 1918 auf einen Mittwoch; an diesem Tag erwarteten Kafkas Eltern einen Besuch Josef Davids. Die Mutter schrieb nämlich am 9. XII. nach Friedland:

"Mittwoch bekommen wir wahrscheinlich auch einen lieben Besuch, Du wirst Dir schon denken wer es ist." Kafka bezeichnet das deswegen als "neue große Zusammenkunft", weil Ottlas Verlobter erstmals am 27. November bei den Kafkas zu Gast war: Ottla schrieb am 2. XII. 1918 an David, sie habe am 30. XI. eine von der Mutter und vom Vater mitunterzeichnete Karte ihres Bruders erhalten, die am Mittwoch, also dem 27. XI, geschrieben worden sei: " . . . sei mir deswegen nicht böse, dass ich erschrocken bin, besonders über diese Karte von zuhause, dass ich mich darüber weder freuen noch beruhigen konnte. Ich dachte nicht, dass es so bald sein würde und dass Dich die Eltern einladen werden, und das einzige, worüber ich mich freuen konnte, war der Gedanke, dass die ganze Sache vielleicht nur von der Ferne aus gewissermaßen erzwungen aussieht und dass mir zuhause bestimmt nicht so schwer ums Herz wäre wie hier beim Lesen. Auch heute noch bin ich noch nicht so ruhig wie ich es bei Dir war . . . vielleicht ist es nur der Gedanke, dass mir die ganze Zeit so leicht war als sie zuhause nichts davon wußten; und ich kann mich jetzt nicht gleich daran gewöhnen." Damit erklärt sich sowohl Nr. 63 denn diese Karte meint Ottla - als auch Kafkas Hinweis auf "andere Berichte" (Briefe Davids).


Die Grüße des Frl. F. : Neben Ottla war Fräulein Fleischmann das einzige Mädchen an der Landwirtschaftlichen Winterschule. Als Fräulein Fleischmann Anfang 1919 nicht nach Friedland zurückkehren konnte, schrieb Ottla an David: "Ich bin froh, dass ich hier allein bin, ich schätze mir diese Freiheit . . . F. war zu mir sehr gut und aufrichtig, wie nur überhaupt jemand sein kann und ich wußte immer ihr Verhalten zu mir zu schätzen. Sie gab mir ihre ganze Freundschaft für eine ganz kurze Zeit, nahm mir aber damit meine Freiheit umso mehr, als ich mich mit ihr nicht ganz befreunden konnte. Wenn sie jetzt käme, würden wir es uns anders einrichten und ich möchte außer in der Schule nur vielleicht eine Stunde mit ihr beisammen sein. Das Lernen geht besser, wenn ich allein bin und die Freizeit ist für mich wirklich frei nur dann, wenn ich allein bin oder mit jemandem, der mir so nahe ist und den ich so kenne wie Irma und den Bruder." (Brief vom 14. I. 1919)

Zur Zeichnung Kafkas: soll wahrscheinlich ihn selber darstellen, eßunlustig am Tisch, vgl. die Anmerkungen zu Nr. 77.


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at