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Brief an Max Brod

[Zürau, Ende März 1918]


Lieber Max, dass es in Dresden so möglich gemacht wurde, ist erstaunlich; wie haben sie es dort so begreifen können, ich meine die Schauspieler, die Theaterleute. Erstaunlich und schön. Und das Glück, die Eltern dort zu haben, kann ich gut verstehn. Deine Frau war nicht mit? Jedenfalls also waren es gute Tage und ihre Güte kann für den Verlust der Willensfreiheit zeitweilig Entschädigung sein. Ich sage das so leichthin, weil ich mit meinem bis zu vollständiger Öde vereinfachendem Auge den Begriff der Willensfreiheit niemals so geistesgegenwärtig an einem ganz bestimmten Punkte des Horizonts fassen konnte wie du. Im übrigen kannst auch du hier die Willensfreiheit behalten oder mußt sie wenigstens nicht verloren geben, indem du entweder dich vorläufig weigerst, es als Gnade hinzunehmen oder es zwar als Gnade nimmst, aber sie für nichtig achtest. Diese Willensfreiheit bleibt uns unverlierbar. Und weißt du denn, was du durch ehrlichste Arbeit langer Jahre in unabsehbar ausstrahlende Bewegung gebracht hast? Ich sage das für dich, nicht für mich.

    Dank für die Vermittlung bei Wolff. Seitdem ich mich entschlossen habe, das Buch meinem Vater zu widmen, liegt mir viel daran, dass es bald erscheint. Nicht als ob ich dadurch den Vater versöhnen könnte, die Wurzeln dieser Feindschaft sind hier unausreißbar, aber ich hätte doch etwas getan, wäre, wenn schon nicht nach Palästina übersiedelt, doch mit dem Finger auf der Landkarte hingefahren. Darum wollte ich, da Wolff sich so gegen mich sperrt, nicht antwortet, nichts schickt und es doch mein wahrscheinlich letztes Buch ist, die Manuskripte an Reiss schicken, der sich mir freundlich angeboten hat. Ich schrieb noch einen Ultimatumbrief an Wolff, der allerdings bis jetzt auch nicht beantwortet ist, doch kam inzwischen vor etwa zehn Tagen eine neue Korrektursendung, worauf ich Reiss doch abgeschrieben habe. Soll ich es doch anderswohin geben? Inzwischen kam auch eine Einladung von Paul Cassirer. Woher kennt er übrigens meine Zürauer Adresset

    Hast du mit Adler vielleicht auch über Kierkegaard gesprochen? Mir ist er jetzt nicht mehr so gegenwärtig, da ich die alten Bücher längere Zeit nicht mehr gelesen habe (ich habe bei dem schönen Wetter im Garten gearbeitet), "Stadien" aber noch nicht gekommen sind. - Du erwähnst die "Durchreflektiertheit" und fühlst offenbar mit mir, dass man sich der Macht seiner Terminologie, seiner Begriffsentdeckungen nicht entziehen kann. Etwa auch der Begriff des "Dialektischen" bei ihm, oder jener Einteilung in "Ritter der Unendlichkeit" und "Ritter des Glaubens" oder gar der Begriff der "Bewegung". Von diesem Begriff kann man geradewegs ins Glück des Erkennens getragen werden und noch einen Flügelschlag weiter. Ist das ganz ursprünglich? Ist vielleicht Schelling oder Hegel (mit beiden hat er sich gegensätzlich sehr beschäftigt) irgendwie dahinter?

    Der Übersetzer benimmt sich allerdings schändlich, ich dachte, nur in "Entweder - Oder" hätte er "verändert mit Rücksicht auf die Jugend" des Verfassers, nun also auch in "Stadien"? Das ist widerlich, besonders in dem Gefühl der Hilflosigkeit dem gegenüber. Aber das Deutsch der Übersetzung ist doch nicht das schlechteste, und hie und da im Nachwort findet sich eine brauchbare Bemerkung, es kommt das daher, dass von Kierkegaard so viel Licht ausgeht, dass in alle Tiefen etwas davon kommt. Doch hätten allerdings diese "Tiefen" vom Verlag nicht heraufbeschworen werden müssen, Kierkegaard zu übersetzen.

    In der Buchveröffentlichung ("Stadien" kenne ich nicht, aber in diesem Sinn sind ja alle seine Bücher kompromittierend) sehe ich keinen entscheidenden Widerspruch zu seiner Grundabsicht. Sie sind nicht eindeutig und selbst wenn er sich später zu einer Art Eindeutigkeit entwickelt, ist auch diese nur ein Teil seines Chaos von Geist, Trauer und Glauben. Das mögen seine Zeitgenossen noch deutlicher gefühlt haben als wir. Außerdem sind ja seine kompromittierenden Bücher pseudonym und zwar pseudonym bis nahe an den Kern, sie können in ihrer Gänze, trotz ihrer Geständnisfülle, doch recht gut als verwirrende Briefe des Verführers gelten, geschrieben hinter Wolken. Und selbst wenn das alles nicht wäre, mußten sie unter der mildernden Wirkung der Zeit die Braut aufatmen lassen, diesem Folterwerk, das jetzt leer lief, oder wenigstens nur mit ihrem Schatten beschäftigt war, entgangen zu sein; um diesen Preis mag sie auch die "Geschmacklosigkeit" der fast alljährlichen Veröffentlichungen geduldig ertragen haben. Und schließlich blieb sie ja, als bester Beweis für die Richtigkeit von Kierkegaards Methode (zu schreien, um nicht gehört zu werden, und falsch zu schreien, für den Fall, dass man doch gehört werden sollte) unschuldig fast wie ein Lämmchen. Und vielleicht gelang hier Kierkegaard etwas gegen seinen Willen oder nebenbei auf seinem anderswohin gerichteten Weg.

    Kierkegaards religiöse Lage will sich mir nicht in der außerordentlichen, auch für mich sehr verführerischen Klarheit zeigen, wie Dir. Schon Kierkegaards Stellung - er muß noch kein Wort sagen - scheint Dich zu widerlegen. Denn das Verhältnis zum Göttlichen entzieht sich zunächst für Kierkegaard jeder fremden Beurteilung, vielleicht so sehr, dass selbst Jesus nicht urteilen dürfte, wie weit derjenige gekommen ist, der ihm nachfolgt. Es scheint das für Kierkegaard gewissermaßen eine Frage des jüngsten Gerichts zu sein, also beantwortbar - sofern eine Antwort noch nötig ist - nach Beendigung dieser Welt. Darum hat das gegenwärtige Außenbild des religiösen Verhältnisses keine Bedeutung. Nun will sich allerdings das religiöse Verhältnis offenbaren, kann das aber nicht in dieser Welt, darum muß der strebende Mensch sich gegen sie stellen, um das Göttliche in sich zu retten, oder, was das gleiche ist, das Göttliche stellt ihn gegen die Welt, um sich zu retten. So muß die Welt vergewaltigt werden von Dir wie von Kierkegaard, hier mehr von Dir, hier mehr von ihm, das sind Unterschiede bloß auf der Seite der vergewaltigten Welt. Und die folgende Stelle ist nicht aus dem Talmud: "Sobald ein Mensch kommt, der etwas Primitives mit sich bringt, so dass er also nicht sagt: Man muß die Welt nehmen wie sie ist (dieses Zeichen das man als Stichling frei passiert), sondern der sagt: Wie die Welt auch ist, ich bleibe bei einer Ursprünglichkeit, die ich nicht nach dem Gutbefinden der Welt zu verändern gedenke: im selben Augenblick, als dieses Wort gehört wird, geht im ganzen Dasein eine Verwandlung vor sich. Wie im Märchen, wenn das Wort gesagt wird, sich das seit hundert Jahren verzauberte Schloß öffnet und alles Leben wird: so wird das Dasein lauter Aufmerksamkeit. Die Engel bekommen zu tun und sehen neugierig zu, was daraus werden wird, denn dies beschäftigt sie. Auf der andern Seite: finstere, unheimliche Dämonen, die lange untätig dagesessen und an ihren Fingern genagt haben, springen auf und rekken die Glieder, denn, sagen sie, hier, worauf sie lange gewartet haben, gibts etwas für uns u. s.w."

    Zum Gott der Selbstquälerei: "Die Voraussetzungen, die das Christentum macht (Leiden in mehr als allgemeinem Maß und Schuld in ganz besonderer Art), die habe ich, und ich finde meine Zuflucht beim Christentum. Aber es gebieterisch oder direkt andern verkündigen, kann ich nicht recht, denn ich kann ja die Voraussetzungen nicht herbeischaffen."

    Zu Freud (bei Betrachtung dessen, dass Jesus immer gesund war):. "Überhaupt leiblich und psychisch ganz gesund ein wahres Geistesleben führen - das kann kein Mensch."

    Sagst du, er sei kein Beispiel, meinst du, kein letztes Beispiel. Gewiß, kein Mensch ist das.

Franz        
 



Quelle: Franz Kafka ; Max Brod: Eine Freundschaft (II). Briefwechsel. Hrsg. von Malcolm Pasley. Frankfurt am Main 1989.


Manuskripte: Der Prosastücke für den Band Ein Landarzt.


Ultimatumbrief: Nicht überliefert.


Paul Cassirer: Berliner Verleger (1871-1926), der die Zeitschrift Pan begründete und später an der Herausgabe der Weißen Blätter beteiligt war.


die folgende Stelle: Aus Sören Kierkegaard, Buch des Richters. Seine Tagebücher 1833-1855 im Auszug aus dem Dänischen übersetzt von Hermann Gottsched, Jena und Leipzig: Diederichs 1905, S.160. Dieses Buch, das Kafka schon im August 1913 gelesen hatte (siehe T 318), führte er offenbar mit sich in Zürau.


Zum Gott der Selbstquälerei: Sören Kierkegaard, Buch des Richters, S.114.


Zu Freud: Sören Kierkegaard, Buch des Richters, S. 112.


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at