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An Felice Bauer

[Prag, 9. September 1917]


Liebste, gerade Dir gegenüber keine Ausflüchte und allmähliche Enthüllungen. Die einzige Ausflucht ist die, daß ich erst heute schreibe. Ich schwieg nicht wegen Deines Schweigens. Dein Schweigen war selbstverständlich, erstaunlich war nur Deine liebe Antwort. Meine 2 letzten Briefe waren zwar charakteristisch, aber ungeheuerlich und es ließ sich weder geradezu noch an ihnen vorbei etwas antworten, das wußte ich ja, nur im Augenblick des Schreibens schlafe ich, dann wache ich rasch genug, freilich doch zu spät auf. Das ist übrigens nicht meine schlechteste Eigenschaft. Der Grund meines Schweigens war aber der: 2 Tage nach meinem letzten Brief, also genau vor 4 Wochen, bekam ich in der Nacht, um 5 Uhr etwa, einen Blutsturz aus der Lunge. Stark genug, 10 Minuten oder länger dauerte das Quellen aus der Kehle, ich dachte es würde gar nicht mehr aufhören. Nächsten Tag war ich beim Doktor, wurde diesmal und später öfters untersucht, röntgenisiert, war dann auf Drängen des Max bei einem Professor. Das Ergebnis ist, ohne daß ich mich hier auf die vielen doktoralen Einzelheiten einlasse, daß ich in beiden Lungenspitzen Tuberkulose habe. Daß eine Krankheit ausbrach, hat mich nicht erstaunt, daß Blut kam, auch nicht, ich locke ja durch Schlaflosigkeit und Kopfschmerzen die große Krankheit schon seit Jahren an und das mißhandelte Blut sprang eben hinaus, aber daß es gerade Tuberkulose ist, überrascht mich natürlich, jetzt im 34. Jahre kommt sie, ohne weit und breit in meiner Familie die geringste Vorgängerin zu haben, über Nacht. Nun, ich muß sie hinnehmen, auch scheint sie mit jenem Blut die Kopfschmerzen mir weggeschwemmt zu haben. Ihr Verlauf läßt sich heute nicht absehn, ihre künftige Gangart bleibt ihr Geheimnis, mein Alter mag eine gewisse Hemmung für sie sein, vielleicht. Ich gehe zumindest für 3 Monate aufs Land, schon nächste Woche, und zwar zu Ottla nach Zürau (Post Flöhau), ich wollte Pensionierung, man glaubt in meinem Interesse, sie mir nicht geben zu sollen, die ein wenig sentimentalen Abschiedskomödien, die ich nach alter Gewohnheit auch jetzt mir nicht versagen kann, wirken hiebei auch etwas gegen meine Bitte, also bleibe ich aktiver Beamter und gehe auf Urlaub. Während ich sonst die ganze Sache natürlich nicht als Geheimnis behandle, verschweige ich sie doch vor meinen Eltern. Zuerst dachte ich gar nicht daran. Als ich aber zum Versuch meiner Mutter nebenbei sagte, ich fühle mich nervös und werde einen großen Urlaub verlangen, und sie ohne den geringsten Verdacht die Sache äußerst glaubhaft fand (sie ist eben für ihren Teil immer grenzenlos gern bereit, mir auf die geringste Andeutung hin Urlaub in alle Ewigkeit zu geben), ließ ich es dabei und so bleibt es vorläufig auch gegenüber dem Vater.

Das ist es also, was ich 4 Wochen, oder eigentlich nur eine Woche lang (die ganz bestimmte Diagnose ist nicht viel älter) verschwieg. Arme liebe Felice - schrieb ich zuletzt; soll es das ständige Schlußwort meiner Briefe werden? Es ist kein Messer, das nur nach vorne sticht, es kreist und sticht auch zurück.

Franz


Zur Ergänzung, damit Du nicht etwa glaubst, mir wäre augenblicklich besonders übel: durchaus nicht, im Gegenteil. Ich huste zwar seit jener Nacht, aber nicht stark, habe manchmal ein wenig Fieber, schwitze manchmal ein wenig in der Nacht, fühle etwas Kurzatmigkeit, sonst aber ist mir durchaus besser als im Durchschnitt der letzten Jahre. Die Kopfschmerzen sind vorüber und seit damals 4 Uhr nachts schlafe ich fast besser als früher. Kopfschmerzen und Schlaflosigkeit sind, wenigstens vorläufig, das Ärgste, was ich kenne.




Meine 2 letzten Briefe Nicht erhalten.



Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at