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Sehr geehrter Herr Kölwel!
Jetzt fand ich Ihre Gedichte. Vielen Dank. Ich dachte kaum mehr, dass
sie kamen und bedauerte es, denn ich hatte den allgemeinen Eindruck stark
in meinem alle Einzelheiten unsinnig rasch verlierenden Gedächtnis
und wäre ihm gerne in der Wirklichkeit nachgegangen. Nun kann ich
es an den drei Gedichten tun, besonders an den Wehenden,
die mir am besten den Münchner Eindruck wieder beleben. Ich las die
Gedichte dort unter ungewöhnlichen Umständen. Ich war hingekommen
mit meiner Geschichte als Reisevehikel, in eine Stadt, die mich außer
als Zusammenkunftsort und als trostlose Jugenderinnerung gar nichts anging,
las dort meine schmutzige Geschichte in vollständiger Gleichgültigkeit,
kein leeres Ofenloch kann kälter sein, war dann, was mir hier selten
geschieht, mit fremden Menschen beisammen, von denen mich Pulver
eine Zeitlang geradezu betörte, fand Sie zu einfach, um mich wesentlich
zu kümmern, wunderte mich dann am nächsten Tag im Kaffeehaus
über die Zufriedenheit, mit der Sie von Ihrem Leben, Ihren Arbeiten
und Plänen erzählten, wußte mit Ihrer Nacherzählung
einer Prosaarbeit nichts anzufangen und bekam schließlich - ohne
dass ich damit alles was in München in mir vorging gestreift
hätte - Ihre Gedichte in die Hand. Diese Gedichte trommelten mir zeilenweise
förmlich gegen die Stirn. So rein, so sündenrein in allem waren
sie, aus reinem Atem kamen sie; ich hätte alles was ich in München
angestellt hatte, an ihnen reinigen wollen. Und vieles davon finde ich
jetzt wieder. Denken Sie bitte wieder einmal an mich und schicken mir etwas.
Mit besten Grüßen sehr ergeben
Kafka
Gottfried Kölwel: Der Lyriker Gottfried Kölwel
wurde mit seinem ersten Gedichtband ("Gesänge gegen den Tod",
1914) von Martin Buber an Kurt Wolff empfohlen und gehörte seitdem
zu den Autoren des Verlages. - Erlernte Kafka im November 1916 anläßlich
der Vorlesung von "In der Strafkolonie" in der Buchhandlung
Goltz in München kennen.
3. Januar 16: Von Kafka falsch datiert; die Vorlesung
in München fand erst November 1916 statt (siehe auch den Brief an
Kurt Wolff vom 11. X. 1916).
Wehenden: Dies und auch die anderen Gedichte erschienen
dann im Band "Erhebung". München, 1918.
Pulver: der Schriftsteller und spätere Graphologe
Max Pulver.
Letzte Änderung: 17.4.2009 werner.haas@univie.ac.at