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Brief an Max Brod

[Zürau, ca. 6.10.1917]


Lieber Max, meine Krankheit? Im Vertrauen sage ich Dir, dass ich sie kaum spüre. Ich fiebere nicht, ich huste nicht viel, ich habe keine Schmerzen. Kurzen Atem habe ich das ist wahr, aber beim Liegen und Sitzen spür ich es nicht, und beim Gehn oder bei irgendeiner Arbeit trägt es sich leicht, ich atme eben zweimal so schnell als früher, eine wesentliche Beschwerde ist das nicht. Ich bin zu der Meinung gekommen dass die Tuberkulose, so wie ich sie habe, keine besondere Krankheit, keine eines besonderen Namens werte Krankheit ist sondern nur eine ihrer Bedeutung nach vorläufig nicht einzuschätzende Verstärkung des allgemeinen Todeskeims. In 3 Wochen habe ich 2½ Kilo zugenommen, habe mich also für den Wegtransport wesentlich schwerer gemacht.

    Die guten Nachrichten über Felix freuen mich, wenn sie auch schon veraltet sein können, immerhin tragen sie doch dazu bei, den Durchschnitt oder den Fernblick des Ganzen etwas tröstlicher zu machen; ihm allerdings schadet das vielleicht mehr als es nützt. - Vor länger als 14 Tagen habe ich ihm geschrieben, eine Antwort habe ich noch nicht. Er ist mir doch nicht böse? Ich wäre dann schlecht genug, an meine Krankheit zu erinnern und daran, dass man doch einem solchen Kranken nicht böse wird.

    Ein neues Stück des Romans. Ein ganz neues oder eine Überarbeitung der Teile, die Du mir noch nicht vorgelesen hast? - Glaubst Du, dass sich das erste Kapitel einfügt, dann wird es wohl sein. - Wie merkwürdig mir das klingt: "Probleme, die ich jetzt vor mir sehe". An sich ist es ja etwas Selbstverständliches, nur dass es mir so unverständlich und in Dir so nahegebracht ist. Das ist wirklicher Kampf, ist des Lebens und Todes wert, bleibt es, ob man es bewältigt oder nicht. Man hat wenigstens den Gegner gesehn oder zumindest seinen Schein am Himmel. Wenn ich das durchzudenken suche, komme ich mir förmlich wie ungeboren vor, selbst ein Dunkles, jage ich im Dunkeln.

    Doch nicht ganz. Was sagst Du zu diesem blendenden Stück Selbsterkenntnis, das ich mir aus einem Brief an F. abgeschrieben habe. Es wäre eine gute Grabschrift:

    "Wenn ich mich auf mein Endziel hin prüfe, so ergibt sich, dass ich nicht eigentlich danach strebe, ein guter Mensch zu werden und einem höchsten Gericht zu entsprechen, sondern, sehr gegensätzlich, die ganze Menschen- und Tiergemeinschaft zu überblicken, ihre grundlegenden Vorlieben, Wünsche, sittlichen Ideale zu erkennen und mich dann möglichst bald dahin zu entwickeln, dass ich durchaus allen wohlgefällig würde undzwar - hier kommt der Sprung - so wohlgefällig, dass ich, ohne die allgemeine Liebe zu verlieren, schließlich als der einzige Sünder, der nicht gebraten wird, die mir innewohnenden Gemeinheiten offen, vor aller Augen ausführen dürfte. Zusammengefaßt kommt es mir also nur auf das Menschen- und Tiergericht an und dieses will ich überdies betrügen, allerdings ohne Betrug."

    Dieser Mittelpunkt einer Selbsterkenntnis gibt vielleicht Möglichkeit zu verschiedenen Folgerungen und Begründungen.

    "Jenufa" habe ich bekommen. Das Lesen ist Musik. Der Text und die Musik haben ja das Wesentliche beigebracht, Du aber hast es wie ein Riesenmensch ins Deutsche getragen. Wie hast Du nur die Wiederholungen Leben-atmend gemacht!

    Soll ich daneben Kleinigkeiten erwähnen? Nur dieses: Kann man vom "Schaffen" weglaufen? "Siehst Du, dann soll man Dich lieben?" Ist das nicht Deutsch, das wir von unsern undeutschen Müttern noch im Ohre haben? "Mannsverstand - ins Wasser gefallen" ist künstliches Deutsch. "Bange Inbrunst" - gehört das hierher? Zwei Bemerkungen des Richters versteh ich nicht: "Hätt' ich mir die Zigarre . . ." und "ohne die gelehrten Herren seh' (steh'?) ich da. . ." "Gerne" am Schluß stört ein wenig in dieser großen Stelle. - Schönere Liedertexte hätte man erwartet, sie können auch im Tschechischen nicht sehr gut sein. - Den "grinsenden Tod" hätte ich gern dem Reichenberger überlassen, auch erwähnst Du das Ende des 2ten Aktes als verdorben, aber ich glaube mich zu erinnern, dass diese Stelle Dir besondere Mühe machte und Du, vielleicht nur als Lesart, eine ähnliche Übersetzung im Manuskript hattest. - Sollte nicht eine Vorbemerkung über die Bedeutung der "Küsterin" gemacht werden?

    Über Scheler nächstens. - Blüher zu lesen bin ich begierig. - Ich schreibe nicht. Mein Wille geht auch nicht geradezu aufs Schreiben. Könnte ich mich wie die Fledermaus durch Graben von Löchern retten, würde ich Löcher graben.


Franz        
 

Von Groß, Werfel und der Zeitschrift hast Du nichts gehört? Deine Komotauer-Teplitzer Reise?

Du sagtest nichts über Ottlas Zeichnung, sie war so stolz sie Dir zu schicken (zu ihrer Verteidigung) deshalb wurde der Brief rekommandiert geschickt.



Quelle: Franz Kafka ; Max Brod: Eine Freundschaft (II). Briefwechsel. Hrsg. von Malcolm Pasley. Frankfurt am Main 1989.


des Romans: "Das große Wagnis".


Brief an F.: Brief vom 1. Oktober 1917 (F 755 f.) Vgl. T 534f.


dem Reichenberger: Hugo Reichenberger (siehe Anm. 20 oben). Brod merkt hierzu an: "Kapellmeister der Wiener Hofoper, der meine Übersetzung verschlimmbessert hatte; sie wurde, gegen meinen Protest, mit diesen Retouchen gedruckt. Einige der ärgsten Geschmacklosigkeiten konnte ich nach heftigen Kämpfen doch noch ausmerzen" (Br 507).


der "Küsterin": Zur Bedeutung dieser Figur siehe SL 274.


Groß . . . Zeitschrift: Brod schreibt hierzu: "Der 23. Juli [1917]sieht dann noch eine größere Gesellschaft bei mir, an der außer Kafka der Musiker Adolf Schreiber, Werfel, Otto Groß und dessen Frau teilnahmen. Groß entwickelte einen Zeitschriftenplan, für den sich Kafka sehr interessierte" (FK 140). Otto Groß (1877-1920) war Psychoanalytiker: zu Kafkas Verhältnis zu ihm siehe M 78 f. Die geplante Zeitschrift sollte "Blätter zur Bekämpfung des Machtwillens" heißen.


Ottlas Zeichnung: Anscheinend nicht erhalten.


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at