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An Felix Weltsch

[Zürau, Anfang Oktober 1917]
 

Lieber Felix, Du bist also nicht böse, das ist gut, aber dass um die "Lügen" der Schein der tiefern Wahrheit zu sehn ist, kann den Lügner nicht trösten. Übrigens ist in der Sache selbst noch einiges Ergänzende zu sagen, aber Dir gegenüber ist es nicht nötig. (Nebenbei: ich bin heute nach einem nicht unschönen Tag so stumpf und so sehr gegen mich eingenommen, dass ich das Schreiben besser lassen sollte.)

Erstaunlich ist der Umfang, welchen Dein Unterricht annimmt, nicht erstaunlich, was die Schüler betrifft, das habe ich immer vorhergesagt, sie drängten mir sogar zu langsam, aber erstaunlich von Deiner Seite. Was für Selbstbeherrschung, Launenlosigkeit, Geistesgegenwart, Sicherheit, wahre Arbeitergesinnung oder um das große Wort zu wagen: Männlichkeit gehört dazu, sich in solche Dinge einzulassen, bei ihnen zu bleiben und sie bei tatsächlich stärkstem Gegenwind noch zu Deinem geistigen Nutzen zu wenden, wie Du es tatsächlich tust, wenn Du es auch verreden willst. Das wäre also gesagt und selbst mir wird in dieser Sphäre wohler.

Jetzt solltest Du nur noch imstande sein, den Lärm der Kinder als Jubel über diese Unterrichtserfolge hinzunehmen. Übrigens muß er doch mit zunehmendem Herbst verschwinden, ebenso wie man hier, wo es doch nichts zu bejubeln gibt, allmählich die Gänse einsperren, die Fahrten auf die Felder einstellen, die Schmiede nur in der Werkstatt arbeiten lassen und die Kinder zu Hause halten wird, nur der helle singende Dialekt und das Bellen der Hunde wird nicht aufhören, während es vor Deinem Hause schon längst still sein wird und die Schülerinnen ungestört Dich anstarren werden.

Dir geht es also gesundheitlich besser (merkwürdig: Deine geheime Vorliebe für Furunkeln, die noch übertroffen wird durch die für Jod), mir nicht schlechter, wobei ich die Gewichtzunahme, die jetzt schon dreieinhalb Kilogramm beträgt, als neutral ansehe. Hinsichtlich der Ursachen der Krankheit bin ich nicht eigensinnig, bleibe aber, da ich doch gewissermaßen im Besitz der Originaldokumente über den "Fall" bin, bei meiner Meinung und ich höre, wie sogar die zunächst beteiligte Lunge förmlich zustimmend rasselt.

Zur Gesundung ist, da hast Du natürlich recht, vor allem der Gesundungswille nötig. Den habe ich, allerdings, soweit sich dies ohne Ziererei sagen läßt, auch den Gegenwillen. Es ist eine besondere, wenn man will, eine verliehene Krankheit, ganz anders als alle, mit denen ich bisher zu tun hatte. So wie ein glücklicher Liebhaber etwa sagt: "Alles Frühere waren nur Täuschungen, jetzt erst liebe ich."

Dank für die "bis"-Erklärung. Brauchbar ist für mich nur das Beispiel: "Borge mir, bis wir wieder zusammenkommen" vorausgesetzt, dass es bedeutet: "Du sollst mir erst dann borgen, bis wir zusammenkommen" und nicht etwa: "Du sollst mir für so lange Zeit borgen, bis wir . . ." das ist aus der bloßen Anführung nicht ersichtlich.

Wegen der Bücher hast Du mich mißverstanden. Es kommt mir hauptsächlich darauf an, Originaltschechisches oder Originalfranzösisches zu lesen, nicht Übersetzungen. Die Bibliothek kenne ich übrigens, sie ist mir (zumindest der Rakowitzá-Band) zu schlecht gedruckt, das Licht ist hier durchaus nicht besser als in der Stadt, bei meinen Nordfenstern. Französisch gibt es natürlich Zahlloses für mich, sollte es Tschechisches nichts anderes geben, würde ich etwas aus der ähnlichen, aber wissenschaftlichen Laichter-Bibliothek nehmen.

Ich lese im Ganzen nicht viel, das Leben auf dem Dorf ist mir so entsprechend. Hat man erst einmal das Gefühl mit allen seinen Unannehmlichkeiten überwunden, in einem nach neueren Prinzipien eingerichteten Tiergarten zu wohnen, in welchem den Tieren volle Freiheit gegeben ist, dann gibt es kein behaglicheres und vor allem kein freieres Leben als auf dem Dorf, frei im geistigen Sinn, möglichst wenig bedrückt von Um- und Vorwelt. Nicht verwechseln darf man dieses Leben mit dem in einer Kleinstadt, das wahrscheinlich fürchterlich ist. Ich wollte immer hier leben, nächstnächste Woche fahre ich wahrscheinlich nach Prag, es wird mir schwer.

Herzliche Grüße Dir und der Frau. Es ist schon zwölf Uhr, ich treibe das so seit drei, vier Tagen, gut ist es nicht, weder für mein Aussehn, noch für den Petroleumvorrat, der sehr klein ist, noch für irgend etwas sonst, aber äußerst verlockend ist es, nur das, nichts sonst.

Franz




Rakowitzá: Helena Racowitzová, Láska a smrt Ferdinanda Lassallea. Prag, 1912.

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at