Voriger Eintrag | Jahresübersicht | Indexseite | Nächster Eintrag |
An Felice Bauer
Unausgesprochen ist vielleicht nichts, Felice, hab darin keine Angst, aber
von Dir ganz begriffen ist vielleicht gerade das Wichtigste nicht. Das
ist kein Vorwurf, nicht die Spur eines Vorwurfes. Du hast das Menschenmögliche
getan, aber was Du nicht hast, kannst Du nicht fassen. Niemand kann das.
Und ich allein habe doch alle Sorge und Angst in mir, lebendig wie Schlangen,
ich allein sehe ununterbrochen in sie hinein, nur ich weiß, wie es
um sie steht. Du erfährst nur durch mich, nur durch Briefe von ihnen,
und das was Dir dadurch von ihnen überliefert wird, verhält sich
an Schrecken, an Beharrlichkeit, an Größe, an Unbesiegbarkeit
zu dem Wirklichen nicht einmal so, wie sich mein Geschriebenes zu dem Wirklichen
verhält, und das ist doch schon ein gar nicht zu umfassendes Mißverhältnis.
Das sehe ich klar, wenn ich Deinen lieben zuversichtlichen gestrigen Brief
lese, bei dessen Schreiben Du ganz die Erinnerung, in der Du mich von Berlin
her hältst, vergessen haben mußt. Nicht das Leben dieser Glücklichen,
die Du in Westerland vor Dir hergehen siehst, erwartet Dich, nicht ein
lustiges Plaudern Arm in Arm, sondern ein klösterliches Leben an
der Seite einen verdrossenen, traurigen, schweigsamen, unzufriedenen, kränklichen
Menschen, der, was Dir wie ein Irrsein erscheinen wird, mit unsichtbaren
Ketten an eine unsichtbare Literatur gekettet ist, und der schreit, wenn
man in die Nähe kommt, weil man, wie er behauptet, diese Kette betastet.
Dein Vater zögert mit der Antwort, das ist selbstverständlich,
aber dass er auch mit den Fragen zögert, scheint mir zu beweisen,
dass er nur ganz allgemeine Bedenken hat, welche eine Auskunft - gänzlich
lügenhafter Weise - mehr als nötig beseitigen wird, dass
er aber gerade über jene Stelle meines Briefes, die mich verraten
könnte, unachtsam, weil dies gänzlich außerhalb seiner
Erfahrung liegt, hinweggeht. Das darf nicht sein, sagte ich mir heute die
ganze Nacht und entwarf einen Brief der ihm das klar
machen sollte. Er ist nicht fertig, ich schicke ihn auch nicht weg, es
war nur ein Ausbruch, der mich nicht einmal erleichtert hat.
Franz
entwarf einen Brief: Vgl. Tagebücher
(21. August 1913), S. 318ff
Letzte Änderung: 17.4.2009 werner.haas@univie.ac.at