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An Felice Bauer

16.1.13 Donnerstag nachmittag
 


Ich schreibe schon jetzt, denn wer weiß, wie spät und wie zerstreut ich abends nachhause kommen werde. Denke nur, ich bleibe heute abend - ich sah es schon seit einem Monat kommen - nicht zuhause. Es reut mich schon jetzt, und ich will zufrieden sein, wenn es mich ¼ Stunde lang während des heutigen Abends nicht reut. Buber hält nämlich einen Vortrag über den jüdischen Mythos; nun Buber würde mich noch lange nicht aus meinem Zimmer treiben, ich habe ihn schon gehört, er macht auf mich einen öden Eindruck, allem, was er sagt, fehlt etwas. (Gewiß kann er auch viel, er hat Chinesische Geschichten

(Ich hatte gerade kein Löschblatt bei der Hand, und während ich wartete bis die Seite trocknet, las ich in der Education [sentimentale], die gerade neben mir liegt, die Seiten 600 bis 603. Du lieber Gott! Ach lies das, Liebste, lies das nur! "Elle avoua qu'elle désirait faire un tour à son bras, dans les reus." Was ist das für ein Satz! Was ist das für ein Gebilde! Die zerstrichenen Seiten, Liebste, bedeuten nicht Nächte, in denen es an Kraft fehlte. Gerade das sind Seiten, in die er sich ganz vertiefte, in denen er sich jedem menschlichen Auge verlor. Und noch bei der dritten Niederschrift erlebte er, wie Du aus dem Anhang des Bandes sehen kannst, dieses unendliche Glück.)

um in der Klammer fortzufahren: er, Buber, hat also "Chinesische Geister- und Liebesgeschichten" herausgegeben, die, soviel ich davon kenne, prachtvoll sind.). Aber nach Buber liest die Eysoldt vor und ihretwegen gehe ich. Hast Du sie schon gehört? Ich sah sie als Ophelia und als Glaube in "Jedermann". Ihr Wesen und ihre Stimme beherrschen mich geradezu. Ich werde wahrscheinlich erst nach Bubers Vortrag hingehe.

Ja, Liebste, die Bemerkung in meinem Sonntagsbrief. Es nützt nichts, ich muß sie noch einmal erwähnen. Sie ist sehr arg, nicht war? Nein, Du bist darin gar nicht eigenartig. Sag, wie kann einem nur so etwas geschehn? Liebste, ich bitte Dich nochmals, verzeih es mir, sprich alles aus, laß keine Bitterkeit gegen mich in Dir zurück, sag mir noch einmal ausdrücklich, dass Du verziehen hast, begieß die Bemerkung mit Tinte und schreib mir, dass es geschehen ist. Ich werde aufatmen. Welcher Teufel führte mir damals die Hand!

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3 Uhr vorüber, Felice, denke nur. Viel gesehen, manches gehört, nichts, was den schönen Schlaf wert wäre. Gute Nacht, meine Liebste. Wie Du ruhig schläfst und der Dir gehört, wandert so in der Ferne umher. Freuen Dich solche Karten wie die beiliegende? Auf dem Bild die Nackte in der Ecke ist Ottla.

Franz


[Am Rande] Das Bild muß ich zurückhaben, ich habe es der Ottla gestohlen.




Mythos: "Der Mythos der Juden" auf dem Festabend des Vereins "Bar Kochba". Ein Teilabdruck erschien in: Vom Judentum. Eint Sammelbuch, herausgegeben vom Verein Jüdischer Hochschüler "Bar Kochba" in Prag, Leipzig 1913, S. 21 ff.


Chinesische Geister- und Liebesgeschichten: herausgegeben und eingeleitet von Martin Buber, Frankfurt am Main 1911.


Jedermann:Hugo von Hofmannsthals Jedermann wurde am 12. Mai 1912 im Neuen Deutschen Theater in Prag (Gastspiel des Berliner Deutschen Theaters) aufgeführt.


Ihr Wesen . . . geradezu: Die Schauspielerin Gertrud Eysoldt vom Reinhardt-Ensemble in Berlin.


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at