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An Felice Bauer

vom 17. zum 18.1.13
 


Ich habe jetzt, Liebste, nach langer Zeit wieder einmal eine schöne Stunde mit Lesen verbracht. Niemals würdest Du erraten, was ich gelesen habe und was mir solche Freude gemacht hat. Es war ein alter Jahrgang der Gartenlaube aus dem Jahre 1863. Ich habe nichts Bestimmtes gelesen, sondern 200 Seiten langsam durchgeblättert, die (damals noch wegen der kostspieligen Reproduktion seltenen) Bilder angeschaut und nur hie und da etwas besonders Interessantes gelesen. Immer wieder zieht es mich so in alte Zeiten, und der Genuß, menschliche Verhältnisse und Denkweise in fertiger, aber noch ganz und gar verständlicher (mein Gott, 1863, es sind ja erst 50 Jahre her) Fassung zu erfahren, trotzdem aber nicht mehr imstande zu sein, sie von unten her gefühlsmäßig im Einzelnen zu erleben, also vor die Notwendigkeit gestellt sein, mit ihnen nach Belieben und Laune zu spielen, - dieser widerspruchsvolle Genuß ist für mich ungeheuer. Immer wieder lese ich gerne alte Zeitungen und Zeitschriften. Und dann dieses alte, einem ans Herz gehende wartende Deutschland von der Mitte des vorigen Jahrhunderts! Die engen Zustände, die Nähe, in der sich jeder dem andern fühlt, der Herausgeber dem Abonnenten, der Schriftsteller dem Leser, der Leser den großen Dichtern der Zeit (Uhland, Jean Paul, Seume, Rückert "Deutschlands Barde und Brahmane").

Ich habe heute nichts geschrieben, und sobald ich das Buch weglege, befällt mich pünktlich die Unsicherheit, die hinter dem Nichtschreiben hergeht als sein böser Geist. Nur ein guter Geist könnte ihn vertreiben, und er müßte ganz nahe bei mir sein und mir sein Wort, das ein großes Gewicht hätte, dafür verpfänden, dass der Verlust eines Abends, an dem ich nichts (infolge dessen auch nichts Schlechtes) geschrieben habe, nicht unersätzlich sei (wie er es ja tatsächlich ist, aber es müßte ebenjener Mund sein, der jetzt am Sonntag vormittag diese Zeilen anlächelt, und dem ich eben alles glaube) und dass ich meine Fähigkeit zu schreiben, in ihrer ganzen Fragwürdigkeit, infolge des einen ungenützten Abends nicht verlieren werde, wie ich, ganz allein an meinem Tisch (im geheizten Wohnzimmer, Hausmütterchen!) sehr ernsthaft befürchte. Ich bitt zu müde zum Schreiben gewesen (eigentlich nicht zu müde, aber ich befürchtete große Müdigkeit, nun, 1 Uhr ist es schon), gestern kam ich ja erst um 3 Uhr nach Hause, aber auch dann wollte das Einschlafen noch lange nicht gelingen, und ganz unschuldig wurde mir noch die 5te Stunde in das schrecklich aufmerksame Ohr geläutet. Nun kommt aber morgen wieder eine neue, allerdings auch schon lange vorhergesehene Störung, ich gehe nämlich - ja, es ist wahr - morgen abend ins Theater. So folgen einander die Vergnügungen, aber dann ist Schluß für lange Zeit. Ich war wohl schon ein Jahr lang nicht im Theater und werde wieder ein Jahr lang nicht gehn, aber morgen ist das russische Ballett zu sehn. Ich habe es schon vor 2 Jahren einmal gesehn und Monate davon geträumt, besonders von einer ganz wilden Tänzerin Eduardowa. Die kommt nun nicht, sie wurde wohl auch nur für eine nebensächliche Dame angesehn, auch die große Karsawina kommt nicht, sie ist mir zum Trotz erkrankt, aber doch bleibt noch vieles. Einmal erwähntest Du das russische Ballett in einem Brief, eine Debatte sollte im Bureau über das russisehe Ballett stattgefunden haben. Was war denn das? Und wie ist dieser Tangotanz, den Du tanztest? Heißt er überhaupt so? Ist es etwas Mexikanisches? Warum gibt es von jenem Tanz kein Bild? Schöneren Tanz als bei den Russen und schönem Tanz als in einzelnen Bewegtragen einzelner Tänzerinnen hie und da habe ich dann nur bei Dalcroze gesehn. Hast Du seine Schule in Berlin tanzen sehn? Sie tanzt dort öfters, glaube ich.

Aber was mische ich mich da unter Tänzerinnen, statt lieber schlafen zu gehn und vorher noch, Felice, Deinen Kopf an meine Brust zu nehmen, die Dich viel mehr braucht, als Du Dir denken kannst. Ich hätte Dir noch so viel zu sagen und zu antworten, aber die Masse des zu Sagenden ist größer und schwieriger als die wirkliche Entfernung zwischen uns, und beide schauen wie unüberwindlich aus.

Wie wäre es, fällt mir noch ein, wenn Deine Mutter bei Überreichung dieses Briefes zur großen Überraschung etwas Freundliches sagte. Aber es ist vielleicht unmöglich, der Brief verdient keine Freundlichkeit, er bringt Dir vielleicht nichts Gutes, trotzdem er im ganzen Umkreis der Welt nichts anderes will, und er soll froh sein, dass er bis in Deine Hände kommen darf.

Franz


Eben schrieb ich auf die Briefadresse irrtümlich meine Hausnummer statt Deiner, und 7 leere Sesseln haben im Umkreis um mich dabei zugesehn.

Wie ist das zu verstehn? Deine Mutter ist abend im Wohnzimmer, während Dein Vater im Schlafzimmer liest? Was macht Deine Mutter allein im Wohnzimmer?

Dann noch etwas. Hast Du im Sommer vielleicht andere Bureaustunden als im Winter, da Du schreibst, dass Du Freitag nachmittags im Sommer in [den] Tempel gehst. (Ich war schon seit einigen Jahren nur 2 mal im Tempel - bei den Hochzeiten meiner Schwestern) Ich dachte, Du machtest Spaß wegen der Mäuse. Die gibt es also wirklich? Armes Kind!




russische Ballett: Das Russische Ballett gab im Frühjahr 1910 ein Gastspiel im Prager Neuen Deutschen Theater.


Tänzerin Eduardowa:Über die Tänzerin Eduardowa vgl. Tagebücher (1910), S. 9 ff.


Dalcroze: Emile Jacques-Dalcroze (1865-1950), Komponist und Begründer einer reformpädagogischen rhythmischen Gymnastik, Direktor des bekannten Hellerauer Instituts. Kafka besichtigte 1914 die Dalcroze-Schule. Vgl. Tagebücher (30. Juni 1914), S. 406 f.


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at