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[Stempel: Riva, 29.11 (rette: 9). 13]
[An:] Herrn Dr. Max Brod k.k. Postkoncipist Prag k.k. Postdirektion
[Briefkopf. Dr. von Hartungen Sanatorium und Wasserheilanstalt, Riva am Gardasee]
Mein lieber Max, ich habe Deine beiden Karten bekommen, aber die Kraft
zu antworten hatte ich nicht. Das Nichtantworten trägt auch dazu bei,
es um einen still zu machen und ich möchte am liebsten mitten in die
Stille mich hineinsenken und nicht mehr herauskommen. Wie brauche ich das
Alleinsein und wie verunreinigt mich jedes Gespräch! Im Sanatorium
rede ich allerdings nichts, bei Tisch sitze ich zwischen einem alten General
(der auch nichts spricht, wenn er sich aber einmal zum Reden entschließt,
sehr klug spricht, zumindest allen andern überlegen) und einer
kleinen, italienisch aussehenden Schweizerin mit dumpfer Stimme, die
über ihre Nachbarschaft unglücklich ist. - Ich merke gerade dass
ich nicht nur nicht reden, sondern auch nicht schreiben kann, ich will
Dir eine Menge sagen, aber es fügt sich nicht in einander oder nimmt
eine falsche Richtung. Ich habe auch wirklich seit etwa 14 Tagen gar nichts
geschrieben, ich führe kein Tagebuch, ich schreibe keine Briefe, je
dünner die Tage rinnen, desto besser. Ich weiß es nicht, aber
ich glaube, wenn mich nicht einer auf dem Schiff (ich war in Malcesine)
heute angesprochen hätte und ich ihm nicht das Versprechen gegeben
hätte, am Abend in den Bayerischen Hof zu kommen, ich säße
jetzt nicht hier und schriebe nicht, sondern wäre wirklich auf dem
Marktplatz.
Sonst lebe ich ganz vernünftig und erhole mich auch, seit Dienstag
habe ich noch jeden Tag gebadet. Wenn mich nur das Eine losließe,
wenn ich nur nicht immerfort daran denken müßte, wenn es nur
nicht manchmal, meistens früh wenn ich aufkomme, wie zu etwas Lebendigem
zusammengeballt über mich herfiele. Und es ist doch alles
ganz klar und seit 14 Tagen vollständig beendet. Ich habe sagen
müssen, dass ich nicht kann und ich kann auch wirklich nicht.
Aber warum habe ich plötzlich ohne besondern Grund unmittelbar aus
dem Gedanken daran, wieder die Unruhe im Herzen, wie in Prag in der schlimmsten
Zeit. Aber ich kann jetzt nicht niederschreiben, was mir ganz deutlich
und immerfort schrecklich gegenwärtig ist, wenn das Briefpapier nicht
vor mir liegt.
Daneben hat nichts Bedeutung und ich reise eigentlich
nur in diesen Höhlen herum. Du könntest glauben, dass das
Alleinsein und das Nichtreden diesen Gedanken eine solche Übermacht
gibt. Das ist es aber nicht, das Bedürfnis nach Alleinsein ist ein
selbstständiges, ich bin gierig nach Alleinsein, die Vorstellung einer
Hochzeitsreise macht mir Entsetzen, jedes Hochzeitsreisepaar ob ich mich
zu ihm in Beziehung setze oder nicht, ist mir ein widerlicher Anblick und
wenn ich mir Ekel erregen will, brauche ich mir nur vorzustellen, dass
ich einer Frau den Arm um die Hüften lege. Siehst du - und trotzdem
und trotzdem die Sache beendet ist und ich nichts mehr schreibe und nichts
Geschriebenes bekomme - trotzdem, trotzdem komme ich nicht los. Es sitzen
hier eben in den Vorstellungen die Unmöglichkeiten eben so nah beisammen
wie in der Wirklichkeit. Ich kann mit ihr nicht leben und ich kann ohne
sie nicht leben. Durch diesen einen Griff ist meine Existenz, die bisher
wenigstens zum Teil für mich gnädig verhüllt war, vollständig
enthüllt. Ich sollte mit Ruten in die Wüste getrieben werden.
Du weißt nicht welche Freude mir inmitten
des Allen Deine Karten gemacht haben. Daß der Tycho
vorwärtsgeht (dass er stecken geblieben ist, glaube ich nicht)
und dass Reinhart an den "Abschied"
denkt. Es wäre lächerlich, wenn ich aus meiner Tiefe Deine Nervositäten
verjagen wollte, das wirst Du selbst und bald und vollständig tun.
Grüße Deine liebe Frau und Felix (dem dieser Brief auch gilt,
ich kann nicht schreiben, verlange aber auch keine Nachricht, weder von
Dir noch von ihm) und die Baumfischen.
Franz
Auf der Rückfahrt bleibe ich einen Tag in München; wenn Du irgendeinen
Botengang (ernsthafteres dürfte es nichts sein) für mich hättest,
dann schreibe mir. Es wäre das einzige Nützliche was ich in München
tun würde
Quelle: Franz Kafka ; Max Brod: Eine Freundschaft (II). Briefwechsel. Hrsg. von Malcolm Pasley. Frankfurt am Main 1989.
Dr. von Hartungen Sanatorium: In diesem 1888 von Dr. Christoph Hartung von Hartungen gegründeten, 1913 von dessen Sohn Dr. Erhard Hartung von Hartungen geleiteten Reform-Sanatorium wurde Heilung nach einer ökologisch orientierten Medizin betrieben und darüber hinaus versucht, Gesundheitserziehung durch einen ethischen Bewußtseinswandel zu beeinflussen. Um die Jahrhundertwende war das Sanatorium international bekannt und Treffpunkt zahlreicher Schriftsteller und Künstler, darunter auch Morgenstern, Freud, Rudolf Steiner, Thomas Mann und Heinrich Mann (den Max Brods Bruder Otto dort aufgesucht hatte, siehe SL 242f.).
einer . . . Schweizerin: In einem Brief vom 29. Dezember 1913 schreibt Kafka: "Ich habe mich im Sanatorium in ein Mädchen verliebt, ein Kind, etwa 18 Jahre alt, eine Schweizerin, die aber in Italien bei Genua lebt..." (F 484). Er hat sie stets nur mit den Initialen W. oder G. W bezeichnet.
in Malcesine: Hier hat Kafka die Stelle aufgesucht, wo Goethe beim Zeichnen einer verfallenen Burg der Spionage verdächtigt wurde. Siehe seine Karte vom gleichen Tag an Ottla (O 20), in der er seine Schwester dazu ermuntert, Goethes unwiderstehliche Beschreibung dieses Abenteuers - in der Italienischen Reise unter dem Datum des 14. September 1786 - zu lesen.
alles . . . beendet: Am 16. September 1913 hatte er aus Venedig an Felice Bauer geschrieben: "Wir müssen Abschied nehmen" (F 466).
der Tycho: Siehe Anrn. 16 oben.
Reinhart . . . "Abschied": Es handelt sich um Brods 1912 bei Juncker erschienenen Abschied von der Jugend. Ein romantisches Lustspiel in 3 Akten. Zu einer Inszenierung durch Max Reinhardt, der damals auf einem Höhepunkt seines Ruhmes stand, ist es nicht gekommen.
Letzte Änderung: 17.4.2009 | werner.haas@univie.ac.at |