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An Felix Weltsch

[Briefkopf: Dr. von Hartungen, Sanatorium. Riva, September 1913]
 

Nein Felix, es wird nicht gut werden, nichts wird gut werden bei mir. Manchmal glaube ich, dass ich nicht mehr auf der Welt bin, sondern irgendwo in der Vorhölle herumtreibe. Du glaubst, Schuldbewußtsein ist für mich eine Hilfe, eine Lösung, nein, Schuldbewußtsein habe ich nur deshalb, weil es für mein Wesen die schönste Form der Reue ist, aber man muß nicht sehr genau hinschaue und das Schuldbewußtsein ist bloß ein Zurückverlangen. Aber kaum ist es das, steigt schon viel fürchterlicher als Reue das Gefühl der Freiheit, der Erlösung, der verhältnismäßigen Zufriedenheit herauf, weit über alle Reue hinaus. Jetzt abend bekam ich den Brief von Max. Weißt Du davon? Was soll ich machen? Vielleicht nicht antworten, gewiß, es ist das einzig Mögliche.

Wie es aber werden wird, das steht in den Karten. Vor ein paar Abenden sind wir sechs Leute beieinander gesessen und eine junge, sehr reiche, sehr elegante Russin hat aus Langweile und Verzweiflung, weil elegante Leute unter Uneleganten viel verlorener sind als umgekehrt, allen Karten gelegt. Und zwar jedem zweimal nach verschiedenen Systemen. Es ergab sich dies und das, natürlich meistens Lächerliches oder Halbernstes, das, selbst wenn man es glaubte, am letzten Ende ganz nichtssagend war. Nur in zwei Fällen ergab sich etwas ganz Bestimmtes, von allen Kontrollierbares und zwar übereinstimmend nach beiden Systemen. In der Konstellation eines Fräuleins stand, dass sie alte Jungfer werden wird, und in meinen Konstellationen waren, was sich sonst nirgends auch nur annähernd ereignet hatte, alle Karten, die menschliche Figuren enthielten, soweit als nur möglich von mir weg an den Rand gerückt und selbst solcher entfernter Figuren gab es einmal nur zwei, einmal war, glaube ich, gar keine da. Statt dessen drehten sich um mich ununterbrochen "Sorgen", "Reichtum" und "Ehrgeiz", die einzigen Abstrakta, welche die Karten außer der "Liebe" kennen.

Geradezu den Karten zu glauben ist allem Anschein nach Unsinn, aber durch sie oder durch einen beliebigen äußern Zufall in einen verwirrten unübersichtlichen Vorstellungskreis Klarheit bringen zu lassen, hat innere Berechtigung. Ich rede hier natürlich nicht von der Wirkung meiner Karten auf mich, sondern auf die andern, und kann dies an der Wirkung nachprüfen, welche die Konstellation des Fräuleins, das alte Jungfer werden soll, auf mich gemacht hat. Es handelt sich hier um ein ganz nettes junges Mädchen, an dem äußerlich, vielleicht mit Ausnahme der Frisur, nichts die zukünftige alte Jungfer verriet, und doch hatte ich, ohne mir vorher nur den geringsten klaren Gedanken über dieses Mädchen zu machen, es von allem Anfang an bedauert, nicht wegen seiner Gegenwart, sondern ganz eindeutig wegen seiner Zukunft. Seitdem nun die Karten so gefallen sind, ist es für mich ganz zweifellos, dass sie alte Jungfer werden muß. - Dein Fall, Felix, ist vielleicht komplizierter als meiner, aber doch unwirklicher. In seinen äußersten, in der Wirklichkeit immer schmerzlichsten Ausläufern ist er doch nur Theorie. Du strengst Dich an, eine zugegebenermaßen unlösbare Frage zu lösen, ohne dass ihre Lösung, so weit man sehen kann, Dir oder irgend jemandem nützen könnte. Wie weit stehe ich doch als Unglücksmensch über Dir! Hätte ich nur die geringste Hoffnung, dass es etwas hilft, ich würde mich an dem Pfosten der Einfahrt des Sanatoriums festhalten, um nicht abreisen zu müssen.

Franz


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at