Voriger Eintrag Jahresübersicht | IndexseiteNächster Eintrag

[An Felice Bauer]
[Prag, 15. Dezember 1912; Sonntag]

Nacht vom 15. zum 16.XII.12

So Liebste, die Türen sind zu, es ist Stille, ich bin wieder bei Dir. Was nennen wir nun schon alles "bei Dir sein"? Ich habe den Tag über nicht geschlafen, und während ich den Nachmittag über und auch am beginnenden Abend dementsprechend mit hängendem Kopf und Nebeln im Gehirn herumging, bin ich jetzt am Beginn der Nacht fast erregt, fühle starken Anlauf zum Schreiben in mir, der Teufel, der immer in der Schreiblust steckt, rührt sich eben zur unpassendsten Zeit. Mag er, ich gehe schlafen. Aber wenn ich Weihnachten zwischen Schreiben und Schlafen geteilt verbringen könnte, Liebste, das wäre ein Glück!
Heute nachmittag also war ich unaufhörlich hinter Dir her, nutzlos um es gleich zu sagen. Oder eigentlich doch nicht ganz nutzlos, denn ich hielt mich immerfort möglichst nahe bei der Frau Friedmann, weil sie doch auch längere Zeit Dir nahe war, weil Ihr Euch Du nennt und weil sie doch Besitzerin von Briefen von Dir ist, die ich ihr einfach nicht gönne. Aber warum sagte sie denn kein Wort von Dir, während ich doch immerfort auf ihren Mund sah, um das erste Wort gleich abzufangen. Schreibt Ihr einander nicht mehr? Weiß sie vielleicht nichts Neues von Dir? Aber wie denn nicht! Und wenn sie nichts Neues weiß, warum erzählt sie nicht etwas Altes. Und wenn sie nichts von Dir erzählen will, warum nennt sie nicht wenigstens Deinen Namen, wie es bei ihren früheren Anwesenheiten doch hie und da geschehen ist. Aber nein, das tut sie nicht, sondern läßt mich stumpfsinnig warten und wir reden von beispiellos gleichgültigen Dingen wie Breslau, Husten, Musik, Schals, Broschen, Frisuren, Italienreisen, Rodeln, Perlentaschen, Frackhemden, Manschettenknöpfen, Herbert Schottländer, Französisch, Hallenbädern, Duschen, Köchinnen, Harden, Geschäftskonjunktur, Reisen in der Nacht, Palacehotel, Schreiberhau, Hüten, Breslauer Universität, Verwandten, kurz von allem möglichen, aber das einzige, was auf Dich und leider gerade jetzt ein wenig Beziehung hat sind paar Worte über Pyramidon und Aspirin, man versteht nicht recht, warum ich mich bei dem Gegenstand so lange aufhalte und die zwei Worte mit Vorliebe über die Zunge rollen lasse. Aber schließlich kann mir das als Ergebnis eines Nachmittags nicht genügen, denn in meinem Kopf summt stundenlang die Forderung nach Felice. Mit Gewalt bringe ich schließlich die Rede auf die Eisenbahnverbindungen zwischen Berlin und Breslau und drohe ihr dabei mit den Augen - nichts.
Außerdem war ich allerdings auch unruhig wegen Maxens Verlobung. Schließlich wird er mir doch wegverlobt. Die Braut kenne ich freilich schon seit Jahren und habe sie fast immer gern, manchmal sogar sehr gern gehabt, sie hat auch viele Vorzüge (für deren Beschreibung das Papier nun keinesfalls mehr reicht, besonders wenn ich es mit solchen Floskeln fülle) sie hat im ganzen ein sehr sanftes, zartes, vorsichtiges Wesen, ist ihm ergeben über alle Maßen - und doch und doch. Leb wohl, Liebste, ich wollte mit Dir allein auf der Welt sein.

Franz

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at