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[An Felice Bauer]
[Prag, 16. Dezember 1912; Montag]

16.XII.12

Kein Brief, Liebste, nicht um 8, nicht um 10. Du warst müde vom Tanzen und nachmittag in der Gesellschaft. Aber auch eine Karte habe ich nicht bekommen. Nun, zur Klage ist kein Grund, ich habe gestern und vorgestern je zwei Briefe bekommen, und wer könnte sich zwischen zwei vorzüglichen Sachen derartig entscheiden, dass er sagte, es ist besser ich bekomme von der Liebsten jeden Tag einen Brief als einmal zwei und dann keinen - aber es ist eben die Regelmäßigkeit, die dem Herzen so wohl tut, die immer gleiche Stunde, in der täglich ein Brief käme, diese gleiche Stunde, die das Gefühl der Ruhe, Treue, der geordneten Verhältnisse, des Fernbleibens böser Überraschungen bringt. Liebste, ich glaube ja nicht, dass Dir etwas Schlechtes widerfahren ist - denn dann hättest Du mir ja desto dringender schreiben müssen - aber woher nehme ich, allein an meinem Schreibtisch, vor meinem Schreibmaschinisten, vor den nur mit sich beschäftigten Parteien, vor den mich ausfragenden Beamten, wo nehme ich vor allen diesen die unbedingte, sichere Überzeugung her, dass Du dort weit in Berlin ruhig und halbwegs zufrieden lebst? Vielleicht hat Dich gestern die Mutter gequält, vielleicht hast Du Kopf- vielleicht Zahnschmerzen, vielleicht bist Du übermüdet, und das alles weiß ich nicht und dreh es nur in meinem Kopfe ungewiß hin und her.
Leb wohl, Liebste, ich werde jetzt immer nur einmal täglich schreiben, wenigstens solange nicht meine Arbeit besser vorwärtsgeht. Denn solange das nicht geschieht, sind meine Briefe eine allzu trübe Erscheinung und Du hast an einem täglich, selbst wenn Du es vor Dir selbst leugnest, übergenug.
Leb wohl, Liebste. Wie mir bei diesem Wort plötzlich die Sonne auf das Papier scheint! Es kann Dir nicht schlecht gehn und ich bin ruhig.

Dein Franz

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at