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[An Felice Bauer]
[Prag, 27. November 1912; Mittwoch]

27. XI. 12

Liebste, es war schon ¼12 vormittag, gerade war ich ein wenig meinen Arbeiten entkommen, ich war wieder fast ganz genau in der alten Aufregung und fing einen Brief an, dessen erste Zeile ich beilege. Da kam zum Glück Deine Karte mit dem Bildchen. (Deinen Montagbrief habe ich auch erst heute bekommen.) Ja, Liebste, so ist es gut, das ist es, was ich will, nur immer die Nachricht wenigstens, die einmal versprochen wurde, diese aber - und sei sie noch so klein - unbedingt. Ich will z.B. nicht, dass Du in der Nacht an mich schreibst und darin gebe ich nicht nach und glaube sogar, dass mein gestriges mittelmäßiges Schreiben dadurch verschuldet war, dass Du gestern nachts gleichzeitig an mich geschrieben hast, (Gebe Gott, dass Du es getan hättest, sage ich im geheimen) aber wenn schon einmal ein Nachtbrief geschrieben ist, dann will ich ihn auch haben. Du schreibst in Deiner Karte, Du hättest mir Montag nachts geschrieben, nun, siehst Du, diesen Brief habe ich nicht. Was soll ich tun? Und jede Zeile von Dir brauche ich doch so sehr! Nach dieser Karte hätte ich morgen vielleicht 2 Briefe zu erwarten, gewiß werde ich nur einen bekommen und vielleicht gar keinen. Die Hände wollen mir vom Tisch fallen vor Hilflosigkeit und vor Verlangen nach Dir.
Gewiß gehn auch alle meine Briefe verloren, der von Kratzau, der von Reichenberg, der heutige Morgenbrief, die einfachen, die rekommandierten, die Expreßbriefe, einfach alles. Du sagst z.B., ich hätte Dir Sonntag nachts nur paar Zeilen geschrieben und es müssen doch wenigstens 8 Seiten sein und ein unendliches Seufzen. Liebste, wenn uns nicht die Post sehr bald zusammentreibt, so werden wir niemals zusammenkommen.
Mit der neuen Photographie geht es mir sonderbar. Dem kleinen Mädchen fühle ich mich näher, dem könnte ich alles sagen, vor der Dame habe ich zuviel Respekt; ich denke, wenn es auch Felice ist, so ist sie doch ein großes Fräulein, und Fräulein ist sie doch keineswegs nur nebenbei. Sie ist lustig, das kleine Mädchen war nicht traurig, aber doch schrecklich ernsthaft; sie sieht vollwangig aus (das ist vielleicht bloß die Wirkung der wahrscheinlichen Abendbeleuchtung) das kleine Mädchen war bleich. Wenn ich zwischen beiden im Leben zu wählen hätte, so würde ich keineswegs ohne Überlegung auf das kleine Mädchen zulaufen, das will ich nicht sagen, aber ich würde doch, wenn auch sehr langsam, nur zum kleinen Mädchen hingehn, allerdings immerfort nach dem großen Fräulein mich umsehn und es nicht aus den Augen lassen. Das Beste wäre freilich, wenn das kleine Mädchen dann mich zu dem großen Fräulein hinführen und mich ihm anempfehlen würde.
Was war das übrigens für eine Photographie, deren Abschnitt Du mir schickst? Warum bekomme ich sie nicht ganz? Weil es ein schlechtes Bild ist? Du traust es mir also wirklich nicht zu, dass ich Dich auch in schlechten Bildern gut sehe? Nach dem Stückchen weißer Halskrause, die auf dem Bild zu sehen ist und die allerdings auch von einer Bluse stammen kann, habe ich sogar den Verdacht, dass das Bild Dich als Pierrot dargestellt hat; wenn das wahr ist, dann wäre es recht böse von Dir, mir das Bild vorzuenthalten, wie es ja überhaupt eine Sünde ist, Photographien zu zerschneiden und gar wenn man sie jemandem schicken will, der nach Deinem Anblick so hungert wie ich.
Euer Geschäft habe ich mir beiläufig richtig vorgestellt, dass aber von Euch täglich der ganz verfluchte Lärm von 1500 Grammophonen ausgeht, das hätte ich wirklich nicht gedacht. An den Leiden wie vieler Nerven hast Du Mitschuld, liebste Dame, hast Du das schon überlegt? Es gab Zeiten, wo ich die fixe Idee hatte, es werde und müsse irgendwo in der Nähe unserer Wohnung ein Grammophon eingeführt werden und das werde mein Verderben sein. Es geschah nicht, Euere Prager Filiale (deren Adresse ich noch immer nicht kenne und deren Leiter, was ich ihm nicht vergessen werde, einmal mit Dir auf dem Hradschin gewesen ist) scheint nicht genug zu arbeiten, Du solltest sie einmal tüchtig tage- wochen- ein Leben lang revidieren. Immerhin 1500 Grammophone! Und die müssen doch, ehe sie weggeschickt werden, zumindest einmal geschrien haben. Arme Felice! Gibt es genug starke Mauern, um diese ersten 1500 Schreie von Dir abzuhalten. Deshalb hast Du Aspirin. Ich, ich muß gar kein Grammophon hören, schon dass sie in der Welt sind, empfinde ich als Drohung. Nur in Paris haben sie mir gefallen, dort hat die Firma Pathé auf irgendeinem Boulevard einen Salon mit Pathephons, wo man für kleine Münze ein unendliches Programm (nach Wahl an der Hand eines dicken Programmbuches) sich vorspielen lassen kann. Das solltet Ihr auch in Berlin machen, wenn es das nicht schon gibt. Verkauft Ihr auch Platten? Ich bestelle 1000 Platten mit Deiner Stimme und Du mußt nichts anderes sagen, als dass Du mir soviele Küsse erlaubst, als ich brauche, um alles Traurige zu vergessen.

Dein Franz

[Die beigelegten Anfangszeilen]

[Tschechischer Briefkopf der Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt "Úrazová pojistovna delnická"]

Liebste, ich bitte Dich, möchtest Du nicht die Gewohnheit annehmen, wenn Du keine Zeit hast mir ausführlicher zu schreiben, mir durch eine Karte in 3 Worten zu sagen, dass Du Dich wohl befindest.


Hradschin: Der hochgelegene Teil Prags mit der königlichen Burg.

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at