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[An Felice Bauer]
[Prag, 7. November 1912; Donnerstag]
[Briefkopf der Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt]

7.XI.12

Liebstes Fräulein Felice! Gestern habe ich vorgegeben, dass ich Sorge um Sie habe und habe mir Mühe gegeben, Ihnen zuzureden. Aber was tue ich selbst unterdessen? Quäle ich Sie nicht? Zwar nicht mit Absicht, denn das wäre unmöglich und müßte, wenn es so wäre, vor Ihrem letzten Brief vergehen wie das Teuflische vor dem Guten, aber durch mein Dasein, durch mein Dasein quäle ich Sie. Ich bin im Grunde unverwandelt, drehe mich weiter in meinem Kreise, habe nur ein neues, unerfülltes Verlangen zu meinem übrigen unerfüllten bekommen und habe eine neue menschliche Sicherheit, vielleicht meine stärkste, geschenkt erhalten zu meinem sonstigen Verlorensein. Sie aber fühlen sich unruhig und gestört, weinen im Traum, was ärger ist als schlaflos zu der Decke schauen, sind anders als an jenem Abend, wo Ihr Blick so ruhig von einem zum andern ging, durchhuschen alles, einmal sind in Ihrem Briefe 20 Leute, einmal keiner, kurz die Gewinne sind zwischen uns ungerecht, höchst ungerecht verteilt. (Was setzt Du Dich Mensch jetzt in diesem stillen Zimmer, das allerdings Dir gehört, mir gegenüber!)
Ich wiederhole, nicht ich habe das verschuldet, - was bin denn ich? - aber das, worauf mein Sinn seit jeher allein gerichtet war, und dessen Richtung auch jetzt seine einzige ist und in die er Sie treiben muß, wenn er Sie nicht verlieren will. Was ist das für eine traurige Gewalt, die ich da verurteilt bin, Ihnen anzutun!
Nach einer langen Unterbrechung (Hätte ich doch Zeit, hätte ich doch Zeit! Ich bekäme Ruhe und für alles den richtigen Überblick. Ich verstünde es, Ihnen vorsichtiger zu schreiben. Ich würde Sie niemals kränken, wie ich es jetzt tue, trotzdem ich nichts peinlicher vermeiden will. Ich bekäme Ruhe und würde nicht wie gerade vor paar Augenblicken oben in meinem Bureau in Gedanken an Sie über den Akten zittern und jetzt hier in der beiläufigen Stille dieses Zimmers stumpf dasitzen und zwischen den herabgelassenen Vorhängen aus dem Fenster sehen. Und wenn wir einander auch jeden Tag schreiben werden, wird es andere Tage geben als den heutigen und eine andere Bestimmung als das Unmögliche auszuführen, mit allen Kräften auseinanderfliegen und mit den gleichen Kräften sich zusammenhalten?)
Nur die Unterbrechung habe ich anzeigen können, sonst nichts, jetzt ist wieder Nachmittag, spät am Nachmittag ist es schon. Wie ich jetzt wieder Ihren Brief lese, befällt es mich, dass ich so gar nichts von Ihrem frühern Leben weiß und gerade nur Ihr Gesicht aus dem Epheu entwirren kann, aus dem Sie als kleines Mädchen auf das Feld hinübersahen. Und es gibt kaum eine Hilfe, mehr zu erfahren, als durch Geschriebenes möglich ist. Glauben Sie nicht daran! Ich wäre Ihnen unleidlich, käme ich selbst. So wie ich auf dem Weg zum Hotel war, so bin ich. Meine Lebensweise, durch die ich allerdings meinen Magen geheilt habe, käme Ihnen närrisch und unerträglich vor. Monatelang mußte mein Vater während meines Nachtessens die Zeitung vors Gesicht halten, ehe er sich daran gewöhnte. Seit einigen Jahren bin ich nun auch ganz unordentlich angezogen. Der gleiche Anzug dient mir für das Bureau, für die Gasse, für den Schreibtisch zuhause, ja sogar für Sommer und Winter. Ich bin gegen Kälte fast besser abgehärtet als ein Stück Holz, aber selbst das wäre schließlich noch kein Grund dafür, so wie ich es tue herumzugehen, also z.B. bis jetzt in den November hinein keinen Überrock, weder einen leichten oder einen schweren, getragen zu haben, auf der Gasse unter eingepackten Passanten einen Narren im Sommeranzug mit Sommerhütchen abzugeben, grundsätzlich ohne Weste zu gehen (ich bin der Erfinder der westenlosen Kleidung) wobei ich noch von nicht weiter zu beschreibenden Merkwürdigkeiten der Wäsche schweige. Wie würden Sie erschrecken, wenn Ihnen bei der Kirche, die ich mir am Beginne Ihrer Straße denke, ein solcher Mensch entgegenträte! Es gibt für meine Lebensweise (abgesehen davon, dass ich, seitdem ich sie führe, unvergleichlich gesünder bin als früher) einige Erklärungen, aber keine würden Sie gelten lassen, besonders da ich alles, was daran gesund sein mag (natürlich rauche ich auch nicht, trinke nicht Alkohol, nicht Kaffee, nicht Thee, esse im allgemeinen, womit ich eine lügenhafte Verschweigung gutmache, auch Chokolade nicht) durch ungenügenden Schlaf längst zunichte mache. Liebstes Fräulein Felice, verwerfen Sie mich aber deshalb nicht, suchen Sie mich auch nicht in diesen Dingen zu bessern und dulden Sie mich freundlich in der großen Entfernung. Denn sehen Sie, gestern abend z.B. kam ich aus dem eiskalten Wetter in meiner gewöhnlichen Tracht nachhause, setzte mich zu meinem fast Tag für Tag gleichförmigen Nachtmahl, hörte meinen Schwager und den, welcher es bald werden wird, manches erzählen, blieb dann, während man sich im Vorzimmer verabschiedete (ich nachtmahle jetzt zwischen ½10 und 10) allein im Zimmer und bekam ein solches Verlangen nach Ihnen, dass ich am liebsten das Gesicht auf den Tisch gelegt hätte, um irgendwie gehalten zu sein.
Sie halten mich für viel jünger als ich bin, und fast möchte ich mein Alter verschweigen, denn die hohe Zahl gibt gerade allem, womit ich Sie störe, noch Nachdruck. Ich bin sogar noch fast um ein Jahr älter als Max und werde am 3. Juli 30 Jahre alt. Allerdings sehe ich wie ein Junge aus und je nach der Menschenkenntnis des uneingeweihten Beurteilers schätzt man mein Alter auf 18 - 25 Jahre.
Gestern habe ich vielleicht etwas über den Professor gesagt, das als Hochmut aufgefaßt werden könnte, still, es ist nichts als Eifersucht. Erst heute habe ich, wenigstens in meinem Sinn, etwas gegen ihn, da er Ihnen Binding empfohlen hat, von dem ich zwar nur sehr wenig kenne, aber keine Zeile, die nicht falscher, übertriebener Gesang wäre. Und diesen schickt er über Ihre Träume! - Und jetzt noch schnell. Warum springen Sie aus der Elektrischen? Mein erschrockenes Gesicht soll vor Ihnen sein, wenn Sie es nächstens tun wollen! Und der Augenarzt? Und die Kopfschmerzen? Ich lese Ihren nächsten Brief nicht, wenn er nicht zuerst Antworten darauf enthält.

Ihr Franz K.


gewöhnte: Kafkas Vater, Sohn eines Fleischhauers, hatte für die vegetarische Lebensweise seines Sohnes kein Verständnis.

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at