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[Max Brod an Felice Bauer]
[Prag, 22. November 1912; Freitag]

Prag, Postdirektion 22.II.1912

Wertes gnädiges Fräulein - Franz scheint durch Ihren Brief schon irgendwie vorbereitet gewesen zu sein, denn als ich ihm Andeutungen machte, erriet er schnell und ich konnte es nicht lang leugnen, daß seine Mutter Ihren Brief gelesen hat u.s.f. - Überdies ist ja die Sache gut ausgefallen und von nun wird er besser aufpassen.
Zur Sache des Briefes muß ich wohl noch sagen: Franzens Mutter liebt ihn sehr, aber sie hat nicht die leiseste Ahnung davon, wer ihr Sohn ist und was für Bedürfnisse er hat. Literatur ist "Zeitvertreib"! Mein Gott! Als ob sie nicht unser Herz auffressen würde; aber wir opfern uns gerne. - Ich bin mit Frau Kafka schon öfter gegensätzlich zusammengeraten. Es nützt eben alle Liebe nichts, wenn man so gar kein Verständnis hat. Der Brief zeugt wieder mal davon. - Franz hat nach jahrelangem Probieren endlich die für ihn einzig bekömmliche Kost gefunden, die vegetarische. Jahrelang hat er an Magenkrankheiten gelitten, jetzt ist er so gesund und frisch wie nie, seit ich ihn kenne. Aber natürlich, da kommen die Eltern mit ihrer banalen Liebe und wollen ihn zum Fleisch und in seine Krankheit zurückzwingen. - Genau so ist es mit der Schlafeinteilung. Endlich hat er das für ihn Richtige gefunden, kann schlafen, in dem unsinnigen Büro seine Pflicht tun und literarisch schaffen. Die Eltern aber ... Ich muß da wirklich bitter werden. - Gott sei Dank, ist Franz von einer erfreulichen Halsstarrigkeit und hält genau an dem fest, was für ihn heilsam ist. Die Eltern wollen eben nicht einsehn, daß für einen Ausnahmemenschen, wie Franz einer ist, auch Ausnahmebedingungen notwendig sind, damit seine zarte Geistigkeit nicht verkümmert. Neulich habe ich an Frau Kafka erst einen 8 Seiten langen Brief darüber schreiben müssen. Die Eltern wollten, daß Franz Nachmittag ins Geschäft geht. Darauf war Franz zum Selbstmord fest entschlossen und schrieb mir schon einen Abschiedsbrief. Im letzten Moment gelang es mir, durch ganz rücksichtsloses Eingreifen ihn gegen seine "liebenden" Eltern zu schützen.
Wenn die Eltern ihn so lieben, warum geben sie ihm nicht 30 000 Gulden wie einer Tochter, damit er aus dem Büro austreten kann und irgendwo an der Riviera, in einem billigen Örtchen, die Werke schafft, die Gott durch sein Gehirn hindurch in die Welt zu setzen verlangt? - Solange Franz nicht in dieser Lage ist, wird er nie vollständig glücklich sein. Denn seine ganze Organisation schreit nach einem friedlichen, der Dichtkunst gewidmeten, sorglosen Leben. Unter den heutigen Umständen ist sein Leben mehr minder ein Vegetieren mit glücklicheren Lichtmomenten. - Nun werden Sie auch seine Nervösität besser verstehn.
Jetzt erscheint ja ein schönes Buch von Kafka. Vielleicht hat er damit Glück und kann ein rein literarisches Leben beginnen. Auch schreibt er einen großen Roman, hält schon im 7. Kapitel, von dem ich mir großen Erfolg verspreche.
Über Nornepygge spreche ich nicht gern, das Buch ist das einzige von meinen Arbeiten, das mir ganz entfremdet ist. Ich danke für Ihr freundliches Interesse.

Mit herzlichen Grüßen
ergeben Ihr     Max Brod

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at