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[Stempel: Harzburg-Wernigerrode Bahnpost, 22. 7. 12]
[An:] Herrn Dr. Max Brod k.k. Postkonceptspraktikant Prag k.k. Postdirection
Abs.: Dr Franz Kafka Jungborn im Harz P. Stapelburg
Mein liebster Max, spielen wir wieder einmal das Spiel der unglücklichen
Kinder? Einer zeigt auf den andern und sagt seinen alten Vers. Deine augenblickliche
Meinung über Dich ist eine philosophische Laune, meine schlechte über
mich ist keine gewöhnliche schlechte Meinung. In dieser Meinung besteht
vielmehr meine einzige Güte, sie ist das, woran ich, nachdem ich sie
im Verlaufe meines Lebens ordentlich eingegrenzt habe, niemals, niemals
zweifeln mußte, sie bringt Ordnung in mich und macht mich, der ich
Unübersichtlichem gegenüber sofort niederfalle, genügend
ruhig. Wir stehn einander doch nahe genug, um in die Begründung der
Meinung des andern hineinsehn zu können. Mir sind ja Einzelheiten
gelungen und ich habe mich über sie mehr gefreut, als selbst Du für
recht halten würdest - könnte ich sonst die Feder noch in der
Hand halten? Ich bin niemals ein Mensch gewesen, der etwas um jeden Preis
durchsetzt. Aber das ist es eben. Was ich geschrieben habe, ist in einem
lauen Bad geschrieben, die ewige Hölle der wirklichen Schriftsteller
habe ich nicht erlebt, von einigen Anfällen abgesehn, die ich trotz
ihrer vielleicht grenzenlosen Stärke infolge ihrer Seltenheit und
der schwachen Kraft, mit der sie spielten, aus der Beurteilung rücken
kann.
Ich schreibe auch hier, sehr wenig allerdings,
klage für mich und freue mich auch; so beten fromme Frauen zu Gott,
in den biblischen Geschichten wird aber der Gott anders gefunden. Daß
ich Dir das, was ich jetzt schreibe, noch lange nicht zeigen kann, mußt
Du Max, begreifen, und wäre es nur mir zu Liebe. Es ist in kleinen
Stücken mehr aneinander als ineinander gearbeitet, wird lange geradeaus
gehn, ehe es sich zum noch so sehr erwünschten Kreise wendet, und
dann in jenem Augenblicke, dem ich entgegenarbeite, wird nicht etwa alles
leichter werden, es ist vielmehr wahrscheinlich, dass ich, der ich
bis dahin unsicher gewesen bin, dann den Kopf verliere. Deshalb wird es
erst nach Beendigung der ersten Fassung etwas sein,
wovon man reden kann.
Hast Du denn die Arche nicht
mit der Schreibmaschine schreiben lassen? Kannst Du mir nicht doch noch
einen Abzug schicken? Und verdient ihr Gelingen nicht ein Wort?
Weltsch liegt noch immer? Hat ihn das aber hingeworfen!
Und ich schreibe ihm nicht und schreibe ihm nicht. Bitte sag doch dem Frl.T. und dem Weltsch und wenn es geht, den Baumischen,
dass ich sie alle liebe und dass Liebe mit Briefschreiben nichts
zu tun hat. Sag es ihnen so, dass es besser ist und freundlicher aufgenommen
wird, als 3 wirkliche Briefe. Wenn Du willst, so kannst Du's.
An unserer gemeinsamen Geschichte hat mich außer
Einzelheiten nur das Neben-Dir-sitzen an den Sonntagen gefreut (die Verzweiflungsanfälle
natürlich abgerechnet) und diese Freude würde mich sofort verlocken,
die Arbeit fortzusetzen. Aber Du hast Wichtigeres zu tun und wenn es nur
der Ulysses wäre.
Mir fehlt jedes organisatorische Talent und darum
kann ich nicht einmal einen Titel für das Jahrbuch erfinden. Vergiß
nur nicht, dass in der Erfindung gleichgültige und selbst schlechte
Titel durch wahrscheinlich unberechenbare Einflüsse der Wirklichkeit
ein gutes Ansehn bekommen.
Sag nichts gegen die Geselligkeit! Ich bin auch
der Menschen wegen hergekommen und bin zufrieden, dass ich mich wenigstens
darin nicht getäuscht habe. Wie lebe ich denn in Prag! Dieses Verlangen
nach Menschen, das ich habe und das sich in Angst verwandelt, wenn es erfüllt
wird, findet sich erst in den Ferien zurecht; ich bin gewiß ein wenig
verwandelt. Übrigens hast Du meine Zeitangaben nicht genau gelesen,
bis 8 Uhr schreibe ich wenig, nach 8 aber nichst, trotzdem ich mich dann
am befreitesten fühle. Darüber würde ich mehr schreiben,
wenn ich nicht gerade den heutigen Tag ganz besonders dumm mit Ball- und
Kartenspielen und Umhersitzen und Liegen im Garten verbracht hätte.
Und Ausflüge mache ich gar keine! Es ist die höchste Gefahr,
dass ich den Brocken gar nicht sehen werde. Wenn Du wüßtest,
wie die kurze Zeit vergeht! Wenn sie so deutlich vergienge wie Wasser,
aber sie vergeht wie Öl.
Samstag nachmittag fahre ich von hier weg (hätte
aber noch sehr gerne bis dahin eine Karte von Dir), bleibe Sonntag in Dresden
und komme Abend nach Prag. Nur aus weithin sichtbarer Schwäche fahre
ich nicht über Weimar. Ich habe einen kleinen Brief
von ihr bekommen mit eigenhändigen Grüßen der Mutter
und 3 beigelegten Photographien. Auf allen dreien ist sie in verschiedenen
Stellungen zu sehn, in einer mit den frühem Photographien unvergleichbaren
Deutlichkeit und schön ist sie! Und ich fahre nach Dresden, als wenn
es sein müßte, und werde mir den zoologischen Garten ansehn,
in den ich gehöre!
Franz
9 Tagebuchblätter
Kennst Du, Max, das Lied "Nun leb wohl.."
Wir haben es heute früh gesungen und ich habe es abgeschrieben. Die
Abschrift heb ich mir ganz besonders gut auf! Das ist eine Reinheit und
wie einfach es ist; jede Strophe besteht aus einem Ausruf und einem Kopfneigen.
Außerdem noch ein vergessenes Blatt von der Reise.
Quelle: Franz Kafka ; Max Brod: Eine Freundschaft (II). Briefwechsel. Hrsg. von Malcolm Pasley. Frankfurt am Main 1989.
der ersten Fassung: D. i. des Romans "Der Verschollene" (vgl. Anm. 17 oben).
die Arche: Siehe Anm. 19 oben.
Frl. T. : Brods spätere Frau, Elsa Taussig (1883-1942).
gemeinsamen Geschichte: "Richard und Samuel". Siehe 1911 Anm. 15 und BKK.
der Ulysses: Es handelt sich wahrscheinlich um eine geplante Aufführung von "Circe und ihre Schweine. Eine klassische Legende mit Musik". Dieses von Franz Blei und Max Brod gemeinsam verfaßte Werk war - mit der Überschrift: "Tombeau dressé à Jules Laforgue"- in ihrem Buch Jules Laforgue: Pierrot der Spaßvogel, eine Auswahl von Franz Blei und Max Brod, Berlin etc.: Juncker 1909, erschienen. Die Aufführung hat nicht stattgefunden. Siehe hierzu F 46, Anm. 1.
Brief von ihr: Margarethe Kirchner (siehe Anm. 8 oben).
das Lied: "In der Ferne", von Albert Graf von Schlippenbach (1800-1886); das Lied ist nach Kafkas Abschrift abgedruckt in BKR.
Letzte Änderung: 17.4.2009 | werner.haas@univie.ac.at |