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[Reisetagebuch Weimar-Jungborn, 20. Juli 1912; Samstag]

20 (Juli 1912) Vormittag mit Dr. Schiller im Wald. Der rote Boden und das von ihm aus sich verbreitende Licht. Das Sichaufschwingen der Stämme. Die schwebenden breiten flachbelaubten Äste der Buchen. - Nachmittag Ankunft einer Maskerade aus Stapelburg. Der Riese mit dem tanzenden als Bären verkleideten Mann. Das Schwingen seiner Schenkel und des Rückens. Das Marschieren durch den Garten hinter der Musik. Das Laufen der Zuschauer über die Rasen, durch die Gebüsche. Der kleine Hans Eppe, wie er sie erblickt. Walter Eppe auf dem Briefkasten. Die mit Gardinen ganz verschleierten als Frauen verkleideten Männer. Der unanständige Anblick, wenn sie mit den Küchenmädchen tanzen und diese dem scheinbar unbekannten Verkleideten sich hingeben.

Vormittag Dr. Sch. das erste Kapitel der Edukation vorgelesen. Nachmittag Spaziergang mit ihm. Erzählungen von seiner Freundin. Er ist ein Freund von Morgenstern, Baluschek, Brandenburg, Poppenberg. Sein schreckliches Jammern abends in der Hütte in Kleidern auf dem Bett. Erstes Gespräch mit Frl. Pollinger, sie weiß aber schon alles Wissenswerte über mich. Prag kennt sie an den "Zwölf aus d. Steiermark". Weißblond, 22 jährig, Aussehen einer 17 jährigen, immer in Sorge um ihre schwerhörige Mutter; verlobt und kokett. - Mittags Abreise jener lederriemenartigen schwedischen Witwe Frau von Wasman. Über ihrer gewöhnlichen Kleidung nur ein graues Jäckchen, ein graues Hütchen mit kleinem Schleier. In dieser Umrahmung wird ihr braunes Gesicht sehr zart, über den Eindruck regelmäßiger Gesichter entscheidet nur Entfernung und Einhüllung. Ihr Gepäck ist ein kleiner Rucksack, viel mehr als ein Nachthemd ist nicht drin. So reist sie unaufhörlich, kam aus Ägypten, geht nach München. - Heute nachmittag, als ich im Bett war, machten mir die Menschen hier heiß, so interessieren mich manche. - Ein Lied des H. v. Gillhausen heißt: "Weißt Du, Mamalein, Du bist so lieb." - Abend Tanz in Stapelburg. Das Fest dauert 4 Tage, es wird kaum gearbeitet. Wir sehn den neuen Schützenkönig und lesen auf seinem Rücken die Namen der Schützenkönige aus dem Anfang des 19.Jahrhunderts ab. Beide Tanzböden voll. Rund um den Saal steht Paar hinter Paar. Jedes kommt nur alle Viertelstunden zu einem kurzen Tanz. Die meisten sind stumm, nicht aus Verlegenheit oder sonst einem besondern Grund, sondern einfach stumm. Ein Betrunkener steht am Rand, kennt alle Mädchen, greift sie an oder streckt wenigstens den Arm zur Umarmung aus. Die betreffenden Tänzer rühren sich nicht. Lärm ist genug durch die Musik und das Schreien der unten bei den Tischen Sitzenden und den beim Ausschank Stehenden. Wir gehn lange nutzlos herum (ich und Dr. Sch.) Ich bin es, der ein Mädchen anspricht. Sie ist mir schon draußen aufgefallen, als sie und 2 Freundinnen Halberstädter Würstchen mit Senf gegessen haben. Sie hat eine weiße Bluse mit blumengeschmückter Einlage, die über Arme und Schultern geht. Das Gesicht hat sie lieb und trübsinnig geneigt, wodurch sie den Oberkörper ein wenig gedrückt und die Bluse aufgebauscht hat. Die kleine aufgestülpte Nase vermehrt bei dieser geneigten Haltung die Trauer. Wahlloses Rotbraun über das ganze Gesicht hin. Ich spreche sie gerade an, als sie die 2 Stufen vom Tanzboden heruntersteigt. Wie wir Brust an Brust stehn und sie umkehrt. Wir tanzen. Sie heißt Auguste, ist aus Wolfenbüttel und ist in der Wirtschaft eines gewissen Klaude in Appenroda seit 1½ Jahren beschäftigt. Meine Eigentümlichkeit, Eigennamen selbst bei mehrfachem Vorsagen nicht zu verstehn und dann auch nicht zu behalten. Sie ist Waise und wird am 1 Oktober in ein Kloster eintreten. Ihren Freundinnen hat sie es noch nicht gesagt. Sie wollte schon im April, aber ihre Herrschaft wollte sie nicht lassen. Sie geht ins Kloster wegen der schlechten Erfahrungen, die sie gemacht hat. Erzählen kann sie sie nicht. Wir gehn vor dem Tanzsaal im Mondschein auf und ab, meine kleinen Freundinnen von letzthin verfolgen mich und meine "Braut". Trotz ihrer Trauer tanzt sie aber sehr gerne, wie sich besonders zeigt als ich sie später dem Dr. Sch. borge. Sie ist Feldarbeiterin. Um 10h mußte sie nach hause fahren.

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at