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[Tagebuch, 26. Dezember 1911; Dienstag]

26. XII (1911) Wieder schlecht geschlafen, schon die 3te Nacht. So habe ich die 3 Feiertage, in denen ich Dinge zu schreiben hoffte, die mir durch das ganze Jahr helfen sollten, in einem hilfsbedürftigen Zustand verbracht. Am Weihnachtsabend Spaziergang mit Löwy gegen Stern zu. Gestern "Blümale oder die Perle von Warschau. " Für ihre standhafte Liebe und Treue wird Blümale vom Verfasser im Titel mit dem Ehrennamen "Perle von Warschau" ausgezeichnet. Erst der freigelegte hohe zarte Hals der Fr. Tschissik erklärt ihre Gesichtsbildung. Der Tränenglanz in den Augen der Frau Klug beim Singen einer gleichmäßig welligen Melodie, in welche die Zuhörer ihre Köpfe hängen lassen, schien mir in seiner Bedeutung weit über das Lied, über das Teater, über die Sorgen des ganzen Publikums ja über meine Vorstellungskraft hinauszugehn. Blick durch die hintere Portiere in die Garderobe gerade auf Frau Klug, die dort im weißen Unterrock und kurzärmeligem Hemd steht. Meine Unsicherheit über die Gefühle des Publikums und daher anstrengende innerliche Aufstachelung seiner Begeisterung. Meine gestrige gewandte liebenswürdige Art mit Fräul. T. und ihrer Begleitung zu sprechen. Es gehörte mit zu dieser gestern wie auch schon Samstag gefühlten Freiheit meines guten Wesens, dass ich, trotzdem ich es auch von der Ferne nicht nötig hatte, aus einer gewissen Nachgiebigkeit gegenüber der Welt und einer übermüthigen Bescheidenheit ein paar äußerlich verlegene Worte und Bewegungen gebrauchte. Ich war allein mit meiner Mutter und nahm auch das leicht und schön; sah alle mit Festigkeit an.

Fortsetzung

Die alten Schriften bekommen viele Deutungen, die gegenüber dem schwachen Material mit einer Energie vorgehn, die nur gedämpft ist durch die Befürchtung, dass man zu leicht bis zum Ende vordringen könnte sowie durch die Ehrfurcht, über die man sich geeinigt hat. Alles geschieht in der ehrlichsten Weise, nur dass innerhalb einer Befangenheit gearbeitet wird, die sich niemals löst, keine Ermüdung aufkommen läßt und durch das Sichheben einer geschickten Hand meilenweit sich verbreitet. Schließlich heißt aber Befangenheit nicht nur die Verhinderung des Ausblicks, sondern auch jene des Einblicks, wodurch ein Strich durch alle diese Bemerkungen gezogen wird.

Weil die zusammenhängenden Menschen fehlen, entfallen zusammenhängende litterarische Aktionen. [Eine einzelne Angelegenheit wird in die Tiefe gedrückt, um sie von der Höhe beobachten zu können, oder sie wird in die Höhe gehoben, damit man sich oben an ihrer Seite behaupten kann. Falsch.] Wenn auch die einzelne Angelegenheit oft mit Ruhe durchdacht wird, so kommt man doch nicht bis an ihre Grenzen, an denen sie mit gleichartigen Angelegenheiten zusammenhängt, am ehesten erreicht man die Grenze gegenüber der Politik, ja man strebt sogar danach, diese Grenze früher zu sehen als sie da ist und oft diese sich zusammenziehende Grenze überall zu finden. Die Enge des Raumes, ferner die Rücksicht auf Einfachheit und Gleichmäßigkeit, endlich auch die Erwägung, dass infolge der innern Selbständigkeit dei Litteratur die äußere Verbindung mit der Politik unschädlich ist, führen dazu, dass die Litteratur sich dadurch im Lande verbreitet, dass sie sich an den politischen Schlagworten festhält.

Allgemein findet sich die Freude an der litterarischen Behandlung kleiner Themen, die nur so groß sein dürfen, dass eine kleine Begeisterung sich an ihnen verbrauchen kann und die polemische Aussichten und Rückhalte haben. Litterarisch überlegte Schimpfworte rollen hin und wieder, im Umkreis der stärkeren Temperamente fliegen sie. Was innerhalb großer Litteraturen unten sich abspielt und einen nicht unentbehrlichen Keller des Gebäudes bildet, geschieht hier im vollen Licht, was dort einen augenblicksweisen Zusammenlauf entstehen läßt, führt hier nichts weniger als die Entscheidung über Leben und Tod aller herbei.

Verzeichnis der heute leicht als altertümlich vorzustellenden Dinge: die bettelnden Krüppel auf den Wegen zu Promenaden und Ausflugsorten, der in der Nacht unbeleuchtete Luftraum, der Brückenkreuzer

Ein Verzeichnis jener Stellen aus "Dichtung u. Wahrheit" die durch eine nicht festzustellende Eigenheit einen besonders starken, mit dem eigentlich Dargestellten nicht wesentlich zusammenhängenden Eindruck des Lebendigen machen z. B. die Vorstellung des Knaben Goethe hervorrufen, wie er neugierig, reich angezogen, beliebt und lebhaft bei allen Bekannten eindringt, um nur alles zu sehen und zu hören, was zu sehen und zu hören ist. Da ich jetzt das Buch durchblättere kann ich solche Stellen nicht finden, alle scheinen mir deutlich und enthalten eine durch keinen Zufall zu überbietende Lebendigkeit. Ich muß warten, bis ich einmal harmlos lesen werde und dann bei den richtigen Stellen mich anhalten.

Unangenehm ist es, zuzuhören, wenn der Vater mit unaufhörlichen Seitenhieben auf die glückliche Lage der Zeitgenossen und vor allem seiner Kinder von den Leiden erzählt, die er in seiner Jugend auszustehen hatte. Niemand leugnet es, dass er jahrelang infolge ungenügender Winterkleidung offene Wunden an den Beinen hatte, dass er häufig gehungert hat, dass er schon mit 10 Jahren ein Wägelchen auch im Winter und sehr früh am Morgen durch die Dörfer schieben mußte - nur erlauben, was er nicht verstehen will, diese richtigen Tatsachen im Vergleich mit der weiteren richtigen Tatsache, dass ich das alles nicht erlitten habe, nicht den geringsten Schluß darauf, dass ich glücklicher gewesen bin als er, dass er sich wegen dieser Wunden an den Beinen überheben darf, dass er von allem Anfang an annimmt und behauptet, dass ich seine damaligen Leiden nicht würdigen kann und dass ich ihm schließlich gerade deshalb, weil ich nicht die gleichen Leiden hatte, grenzenlos dankbar sein muß. Wie gern würde ich zuhören, wenn er ununterbrochen von seiner Jugend und seinen Eltern erzählen würde, aber alles dies im Tone der Prahlerei und des Zankens anzuhören, ist quälend. Immer wieder schlägt er die Hände zusammen: "Wer weiß das heute! Was wissen die Kinder! Das hat niemand gelitten! Versteht das heute ein Kind! " Heute wurde mit der Tante Julie die uns besuchte wieder ähnlich gesprochen. Sie hat auch das riesige Gesicht aller Verwandten von Vaters Seite. Die Augen sind um eine kleine störende Nuance falsch gebettet oder gefärbt. Sie wurde mit 10 Jahren als Köchin vermietet. Da mußte sie bei großer Kälte in einem nassen Röckchen um etwas laufen, die Haut an den Beinen sprang ihr, das Röckchen gefror und trocknete erst abends im Bett.

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at