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[Tagebuch, 10. Dezember 1911; Sonntag]
10 Dec. (1911) So. Ich muß meine Schwester besuchen gehn und ihren kleinen Jungen. Als vorgestern die Mutter um 1 Uhr in der Nacht von meiner Schwester zurückkam mit der Nachricht von der Geburt des Jungen, zog mein Vater im Nachthemd durch die Wohnung, öffnete alle Zimmer, weckte mich das Dienstmädchen und die Schwestern und verkündete die Geburt in einer Weise, als sei das Kind nicht nur geboren worden, sondern als habe es auch bereits ein ehrenvolles Leben geführt und sein Begräbnis gehabt.
Später erst kann es uns wundern, dass jene fremden Lebensverhältnisse trotz ihrer Lebhaftigkeit unveränderlich in dem Buch beschrieben sind, obwohl wir nach unserer Erfahrung zu wissen glauben, dass von einem Erlebnis wie es z. B. die Trauer über den Tod eines Freundes ist, nichts auf der Welt weiter absteht, als die Beschreibung dieses Erlebnisses. Was aber für unsere Person recht ist, ist es nicht für die fremde. Wenn wir nämlich mit unseren Briefen dem eigenen Gefühle nicht genügen können - natürlich gibt es hier eine beiderseits verschwimmende Menge von Abstufungen, - wenn uns selbst in unserm besten Zustand immer wieder Ausdrücke behilflich sein müssen, wie "unbeschreiblich", "unsagbar" oder ein "so traurig" oder so schön dem dann ein rasch abbröckelnder "dass"-Satz folgt, so ist uns wie zum Lohn dafür die Fähigkeit gegeben, fremde Berichte mit der ruhigen Genauigkeit aufzufassen, die uns dem eigenen Briefschreiben gegenüber zumindest in diesem Maße fehlt. Die Unkenntnis, in der wir uns über jene Gefühle befinden, welche den vorliegenden Briefe je nachdem einmal gespannt oder zerknittert haben, gerade diese Unkenntnis wird Verstand, da wir gezwungen sind, an den hier liegenden Brief uns zu halten, nur das zu glauben, was darin steht, dieses also vollkommen ausgedrückt zu finden und von einem vollkommenen Ausdruck wie es nur gerecht ist den Weg ins Menschlichste hinein offen zu sehn. So enthalten z. B. Karl Stauffers Briefe nur den Bericht über das kurze Leben eines Künstlers
Letzte Änderung: 17.4.2009 | werner.haas@univie.ac.at |