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[Tagebuch, 13. Dezember 1911; Mittwoch]

13. XII 11 Aus Müdigkeit nicht geschrieben und abwechselnd auf dem Kanapee im warmen und im kalten Zimmer gelegen mit kranken Beinen und ekelhaften Träumen. Ein Hund lag mir auf dem Leib, eine Pfote nahe beim Gesicht, ich erwachte davon, aber hatte noch ein Weilchen Furcht, die Augen aufzumachen und ihn anzusehn.

Biberpelz. Lückenhaftes, ohne Steigerung abflauendes Stück. Falsche Scenen des Amtsvorstehers. Zartes Spiel der Lehmann vom Lessingteater. Einlegen des Rockes zwischen die Schenkel wenn sie sich bückt. Der nachdenkliche Blick des Volkes, Heben beider Handflächen, die links vor dem Gesicht unter einandergereiht werden, wie um die Macht der leugnenden oder beteuernden Stimme freiwillig zu schwächen. Unberatenes grobes Spiel der andern. Frechheiten des Komikers gegen das Stück (zieht seinen alten Säbel, verwechselt die Hüte) Meine kalte Unlust. Nachhausegegangen, aber auch schon dort gesessen mit der bewundernden Vorstellung, dass soviel Menschen für einen Abend soviel Aufregung auf sich nehmen (man schreit, stiehlt, wird bestohlen, belästigt, beklatscht, vernachlässigt) und dass in diesem Stück, wenn man es nur mit blinzelnden Augen ansieht, soviel ungeordnete Menschenstimmen und Ausrufe zusammengeworfen sind. Schöne Mädchen. Eine mit glattem Gesicht, ununterbrochenen Hautflächen, Wangenrundung, hoch oben ansetzendem Haar, in dieser Glätte verlassenen und etwas aufquellenden Augen. - Schöne Stellen des Stückes, in denen sich die Wulffen gleichzeitig als Diebin und als ehrliche Freundin der klugen, fortschrittlichen, demokratischen Menschen zeigt. Ein Wehrhahn als Zuhörer müßte sich eigentlich bestätigt fühlen. - Trauriger Parallelismus der 4 Akte. Im ersten Akt wird gestohlen, im 2ten ist das Gericht, ebenso im 3tten und 4. Akt -

"Der Schneider als Gemeinderat" bei den Juden. Ohne die Tschissiks, aber mit zwei neuen, dem Ehepaar Liebegold, fürchterlichen Menschen. Schlechtes Stück von Richter. Der Anfang molierisch der protzige mit Uhren behängte Gemeinderat. - Die Liebgold kann nicht lesen, ihr Mann muß mit ihr studieren. - Es ist fast Sitte, dass ein Komiker eine Ernste und ein Ernster eine Lustige heiratet und dass überhaupt nur verheiratete oder verwandte Frauenzimmer mitgenommen werden. - Wie einmal um Mitternacht der Klavierspieler wahrscheinlich ein Junggeselle, mit seinen Noten sich durch die Tür hinausdrückte.

Brahmskoncert des Singvereins. Das Wesentliche meiner Unmusikalität ist, dass ich Musik nicht zusammenhängend genießen kann, nur hie und da entsteht eine Wirkung in mir und wie selten ist die eine musikalische. Die gehörte Musik zieht natürlich eine Mauer um mich und meine einzige dauernde musikalische Beeinflussung ist die, dass ich so eingesperrt, anders bin als frei. - Solche Ehrerbietung wie vor der Musik gibt es im Publikum vor der Litteratur nicht. Die singenden Mädchen. Vielen war der Mund nur von der Melodie offengehalten. Einer mit schwerfälligem Körper flog Hals und Kopf beim Gesang. - Drei Geistliche in einer Loge. Der Mittlere mit rotem Käppchen hört mit Ruhe und Würde zu, unberührt und schwer, aber nicht steif; der rechts ist zusammengesunken mit spitzigem, starren faltigem Gesicht; der links dick hat sein Gesicht schief auf die halb geöffnete Faust gesetzt. - Gespielt. Tragische Ouverture. (Ich höre nur langsame feierliche einmal hier einmal dort ausgeführte Schritte. Lehrreich ist es, den Übergang der Musik zwischen den einzelnen Spielergruppen zu beobachten und mit dem Ohr nachzuprüfen. Die Zerstörung in der Frisur des Dirigenten).

Beherzigung von Goethe, Nänie von Schiller Gesang der Parzen, Triumpflied - Die singenden Frauen die oben an der niedrigen Balustrade standen, wie auf einer frühitalienischen Architektur.

Sicher ist, dass ich, trotzdem ich eine ziemliche Zeit in oft über mir zusammenschlagender Litteratur gestanden bin,

seit drei Tagen abgesehn vom allgemeinen Glücksverlangen kein ursprüngliches Verlangen nach Litteratur fühle. Ebenso hielt ich Löwy vorige Woche für meinen unentbehrlichen Freund und entbehrte ihn jetzt drei Tage leicht.

Ich ziehe, wenn ich nach längerer Zeit zu schreiben anfange, die Worte wie aus der leeren Luft. Ist eines gewonnen, dann ist eben nur dieses eine da und alle Arbeit fängt von vorne an

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at