Voriger Eintrag Jahresübersicht | IndexseiteNächster Eintrag

[Tagebuch, 22. November 1911; Mittwoch]

22 XI 11

Anna. Du hast aber eine neue Gewohnheit angenommen Emil, eine ganz abscheuliche. An jede Kleinigkeit kannst Du anknüpfen und mit ihrer Hilfe eine schlechte Eigenschaft an mir finden.

Karl (reibt sich die Finger) Weil Du keine Rücksicht nimmst, weil Du überhaupt unbegreiflich bist.

Sicher ist, dass ein Haupthindernis meines Fortschritts mein körperlicher Zustand bildet. Mit einem solchen Körper läßt sich nichts erreichen. Ich werde mich an sein fortwährendes Versagen gewöhnen müssen. Von den letzten wild durchträumten, aber kaum weilchenweise durchschlafenen Nächten bin ich heute früh so ohne Zusammenhang gewesen, fühlte nichts anderes als meine Stirn, sah einen halbwegs erträglichen Zustand erst weit über dem gegenwärtigen und hätte mich einmal gerne vor lauter Todesbereitschaft mit den Akten in der Hand auf den Cementplatten des Korridors zusammengerollt. Mein Körper ist zu lang für seine Schwäche, er hat nicht das geringste Fett zur Erzeugung einer segensreichen Wärme, zur Bewahrung inneren Feuers, kein Fett von dem sich einmal der Geist über seine Tagesnotdurft hinaus ohne Schädigung des Ganzen nähren könnte. Wie soll das schwache Herz, das mich in der letzten Zeit öfters gestochen hat, das Blut über die ganze Länge dieser Beine hin stoßen können. Bis zum Knie wäre genug Arbeit, dann aber wird es nur noch mit Greisenkraft in die kalten Unterschenkel gespült. Nun ist es aber schon wieder oben nötig, man wartet darauf, während es sich unten verzettelt. Durch die Länge des Körpers ist alles auseinandergezogen. Was kann er da leisten, da er doch vielleicht, selbst wenn er zusammengedrängt wäre, zuwenig Kraft hätte für das, was ich erreichen will.

aus einem Brief Löwys an seinen Vater: Wenn ich nach Warschau komme, werde ich in meinen europäischen Kleidern zwischen euch herumgehn wie "eine Spinne vor den Augen, wie ein Trauernder unter Brautleuten"

L. erzählt von einem verheirateten Freunde, der in Postin lebt einer kleinen Stadt in der Nähe von Warschau und sich in seinen fortschrittlichen Interessen einsam und daher unglücklich fühlt. "Postin, ist das eine große Stadt" "So groß" er hält mir seine flache Hand hin. Sie ist mit einem gerauhten gelbbraunen Handschuh bekleidet und stellt eine wüste Gegend vor.

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at