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[Tagebuch, 21. November 1911; Dienstag]

21. XI 11 Mein gewesenes Kinderfräulein, die im Gesicht schwarzgelbe, mit kantigem Nasenrand und einer mir damals so lieben Warze irgendwo auf der Wange war heute zum zweitenmal in kurzer Zeit bei uns um mich zu sehn. Das erste Mal war ich nicht zuhause, diesmal wollte ich in Ruh gelassen sein und schlafen und ließ mich verleugnen. Warum hat sie mich so schlecht erzogen, ich war doch folgsam, sie sagt es jetzt selbst im Vorzimmer zur Köchin und zum Fräulein, ich war von ruhiger Gemütsart und brav. Warum hat sie das nicht für mich ausgenützt und mir eine bessere Zukunft vorbereitet. Sie ist eine Ehefrau oder Witwe, hat Kinder, hat eine lebhafte Sprache, die mich nicht schlafen läßt, denkt, dass ich ein großer, gesunder Herr im schönen Alter von 28 Jahren bin, gern an meine Jugend zurückdenke und überhaupt etwas mit mir anzufangen weiß. Nun liege ich aber hier auf dem Kanapee, mit einem Fußtritt aus der Welt geworfen, passe auf den Schlaf auf der nicht kommen will und wenn er kommt mich nur streifen wird, die Gelenke habe ich wund vor Müdigkeit, mein dürrer Körper zittert sich zugrunde in Aufregungen, derer er sich nicht klar bewußt werden darf, im Kopf zuckt es zum Erstaunen. Und da stehen die 3 Frauen vor meiner Tür, eine lobt mich wie ich war, zwei wie ich bin. Die Köchin sagt, ich werde gleich, sie meint ohne jeden Umweg in den Himmel kommen. So wird es sein.

Löwy: Ein Rabbi im Talmud hatte das in diesem Falle sehr gottgefallige Princip, nichts, nicht einmal ein Glas Wasser von jemandem anzunehmen. Nun traf es sich aber, dass der größte Rabbi seiner Zeit ihn kennen lernen wollte und ihn also zum Essen einlud. Die Einladung eines solchen Mannes ablehnen, das war nicht möglich. Traurig machte sich daher der erste Rabbi auf den Weg. Aber weil sein Princip so stark war, schob sich zwischen die beiden Rabbi ein Berg.

Anna (sitzt beim Tisch, liest in der Zeitung.)

Karl (geht im Zimmer herum, sobald er zum Fenster kommt, bleibt er stehn und schaut hinaus, einmal öffnet er sogar das innere Fenster.)

Anna Bitte laß das Fenster zu, es friert doch

Karl (schließt das Fenster) Wir haben eben verschiedene Sorgen.

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at