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[Tagebuch, 4. Oktober 1911; Mittwoch]
4. (Oktober 1911) Ich bin unruhig und giftig. Gestern vor dem Einschlafen hatte ich links oben im Kopf ein flackerndes kühles Flämmchen. Über meinem linken Auge hat sich eine Spannung schon eingebürgert. Denke ich daran so scheint es mir, dass ich es im Bureau auch dann nicht aushalten könnte, wenn man mir sagte, dass ich in einem Monat frei sein werde. Und doch tue ich im Bureau meist meine Pflicht, bin recht ruhig, wenn ich der Zufriedenheit meines Chefs sicher sein kann und empfinde meinen Zustand nicht als einen schrecklichen. Gestern abend habe ich mich übrigens mit Absicht dumpf gemacht, war spazieren, habe Dickens gelesen, war dann etwas gesünder und hatte die Kraft zu der Traurigkeit verloren, die ich als berechtigt ansah, wenn sie mir auch etwas in die Ferne gerückt schien, wovon ich mir einen bessern Schlaf erhoffte. Er war auch ein wenig tiefer, aber nicht genug und oft unterbrochen. Ich sagte mir zum Trost, dass ich zwar die große Bewegung, die in mir gewesen war, wieder unterdrückt hatte, dass ich mich aber nicht aus der Hand geben wollte, wie früher immer nach solchen Zeiten, sondern dass ich mir auch der Nachwehen jener Bewegung genau bewußt bleiben wolle, was ich früher nie getan hatte. Vielleicht könnte ich so eine verborgene Standhaftigkeit in mir finden.
Gegen Abend im Dunkel in meinem Zimmer auf dem Kanapee. Warum braucht man längere Zeit um eine Farbe zu erkennen wird dann aber nach der entscheidenden Biegung des Verständnisses rasch immer überzeugter von der Farbe. Wirkt auf die Glastür von außenher das Licht des Vorzimmers und jenes der Küche gleichzeitig, so gießt sich grünliches oder besser um den sichern Eindruck nicht zu entwerten, grünes Licht die Scheiben fast ganz hinab. Wird das Licht im Vorzimmer abgedreht und bleibt nur das Küchenlicht, so wird die der Küche nähere Scheibe tiefblau, die andere weißlich blau so weißlich, dass sich die ganze Zeichnung auf dem Mattglas (stilisierte Mohnköpfe, Ranken, verschiedene Vierecke und Blätter) auflöst. - Die von dem elektrischen Licht auf der Straße und Brücke unten auf die Wände und die Decke geworfenen Lichter und Schatten sind ungeordnet zum Teil verdorben einander überdeckend und schwer zu überprüfen. Es wurde eben bei der Aufstellung der elektrischen Bogenlampen unten und bei der Einrichtung dieses Zimmers keine hausfraumäßige Rücksicht darauf genommen, wie mein Zimmer zu dieser Stunde vom Kanapee aus ohne eigene Zimmerbeleuchtung aussehn wird. - Der von der unten fahrenden Elektrischen an die Decke emporgeworfene Glanz fährt weißlich, schleierhaft und mechanisch stockend die eine Wand und Decke, in der Kante gebrochen, entlang. - Der Globus steht im ersten frischen vollen Widerschein der Straßenbeleuchtung auf dem oben grünlich rein überleuchteten Wäschekasten, hat einen Glanzpunkt auf seiner Rundung und ein Aussehn, als sei ihm der Schein doch zu stark, trotzdem das Licht an seiner Glätte vorüberfährt und ihn eher bräunlich, lederapfelartig zurückläßt. - Das Licht aus dem Vorzimmer bringt einen großflächigen Glanz an der Wand über dem Bett hervor, der in einer geschwungenen Linie vom Kopfende des Bettes aus begrenzt wird, das Bett im Anblick niederdrückt, die dunklen Bettpfosten verbreitert, die Zimmerdecke über dem Bette hebt
Letzte Änderung: 17.4.2009 | werner.haas@univie.ac.at |