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[Tagebuch, 5. Oktober 1911; Donnerstag]
5. (Oktober 1911) Zum erstenmal seit einigen Tagen wieder Unruhe selbst vor diesem Schreiben. Wut über meine Schwester, die ins Zimmer kommt und sich mit einem Buch zum Tisch setzt; Abwarten der nächsten kleinen Gelegenheit zum Losgehn dieser Wut. Endlich nimmt sie eine Visitkarte vom Behälter und stochert mit ihr zwischen den Zähnen herum. Mit abfahrender Wut, von der mir nur ein scharfer Dampf im Kopf zurückbleibt, und beginnender Erleichterung und Zuversicht fange ich zu schreiben an.
Gestern abend Cafe Savoy. Jüdische Gesellschaft - Frau Klug "Herrenimitatorin". Im Kaftan kurzen schwarzen Hosen, weißen Strümpfen, einem aus der schwarzen Weste steigenden dünnwolligem weißen Hemd, das vorn am Hals von einem Zwirnknopf gehalten ist und dann in einen breiten, losen, langauslaufenden Kragen umschlägt. Auf dem Kopf, das Frauenhaar umfassend, aber auch sonst nötig und von ihrem Mann auch getragen, ein dunkles randloses Käppchen, darüber ein großer weicher schwarzer Hut mit hochaufgebogenem Rand. - Eigentlich weiß ich nicht, was für Personen das sind, die sie und ihr Mann darstellt. Wollte ich sie jemandem erklären, dem ich meine Unwissenheit nicht eingestehen will, würde ich sehn, dass ich sie für Gemeindediener halte, für Angestellte des Tempels, bekannte Faulenzer, mit denen sich die Gemeinde abgefunden hat, irgendwie aus religiösen Gründen bevorzugte Schnorrer, Leute, die infolge ihrer abgesonderten Stellung gerade ganz nahe am Mittelpunkt des Gemeindelebens sind, infolge ihres nutzlosen aufpasserischen Herumziehns viele Lieder kennen, die Verhältnisse aller Gemeindemitglieder genau durchschauen aber infolge ihrer Beziehungslosigkeit zum Berufsleben nichts mit diesen Kenntnissen anzufangen wissen, Leute, die in einer besonders reinen Form Juden sind, weil sie nur in der Religion aber ohne Mühe, Verständnis und Jammer in ihr leben. Sie scheinen sich aus jedem einen Narren zu machen, lachen gleich nach der Ermordung eines edlen Juden, verkaufen sich einem Abtrünnigen, tanzen die Hände vor Entzücken am Wangenhaar, als der entlarvte Mörder sich vergiftet und Gott anruft, und doch alles nur weil sie so federleicht sind, unter jedem Druck auf dem Boden liegen empfindlich sind, gleich mit trockenem Gesicht weinen (sie weinen sich in Grimassen aus), sobald der Druck aber vorüber ist, nicht das geringste Eigengewicht aufbringen sondern gleich in die Höhe springen müssen. Sie müßten daher einem ernsten Stück wie es der "Meschumed" von Lateiner ist, eigentlich viel Sorge machen, da sie immer in ganzer Größe und oft auf den Fußspitzen oder mit beiden Beinen in der Luft vorn auf der Bühne sind und die Aufregung des Stückes nicht lösen, sondern zerschneiden. Nun wickelt sich aber der Ernst des Stückes in so geschlossenen, selbst in der möglichen Improvisation abgewogenen, von einheitlichem Gefühl gespannten Worten ab, dass selbst wenn die Handlung nur im Hintergrund der Bühne vor sich geht, sie sich ihre Bedeutung immer wahrt. Eher werden hie und da die 2 im Kaftan unterdrückt, was ihrer Natur entspricht und man sieht trotz ihrer ausgebreiteten Arme und schnippenden Finger nur hinten den Mörder, der das Gift in sich, die Hand an seinem eigentlich zu weiten Kragen zur Türe wankt. - Die Melodien sind lang, der Körper vertraut sich ihnen gerne an. Infolge ihrer gerade verlaufenden Länge wird ihnen am besten durch das Wiegen der Hüften, durch ausgebreitete in ruhigem Atem gehobene und gesenkte Arme, durch Annäherung der Handflächen an die Schläfen und sorgfältige Vermeidung der Berührung entsprochen. Erinnert etwas an den Slapak - Bei manchen Liedern, der Aussprache "jüdische Kinderloch", manchem Anblick dieser Frau, die auf dem Podium, weil sie Jüdin ist uns Zuhörer weil wir Juden sind an sich zieht, ohne Verlangen oder Neugier nach Christen, gieng mir ein Zittern über die Wangen. Der Regierungsvertreter, der vielleicht mit Ausnahme eines Kellners und zweier links von der Bühne stehender Dienstmädchen einzige Christ im Saal ist ein kläglicher Mensch mit einem Gesichtstik behaftet der besonders in der linken Gesichtshälfte und auch in die rechte stark einreißend, das Gesicht mit der fast schonungsvollen Geschwindigkeit ich meine Flüchtigkeit des Sekundenzeigers aber auch seiner Regelmäßigkeit zusammenzieht und läßt. Wenn er über das linke Auge hinfährt, löscht er es fast aus. Für dieses Zusammenziehn haben sich in dem sonst ganz verfallenen Gesicht neue kleine frische Muskeln entwickelt. - Die talmudische Melodie genauer Fragen, Beschwörungen oder Erklärungen: In eine Röhre fährt die Luft und nimmt die Röhre mit, dafür dreht sich dem Befragten aus kleinen fernen Anfängen eine große im ganzen stolze in ihren Biegungen demüthige Schraube entgegen.
Letzte Änderung: 17.4.2009 | werner.haas@univie.ac.at |