peter.mahr

<2021.4>: Criticism commented. Das Problem des Schauspiels in der arte-Fernsehserie In Therapie (noch bis 27. Juli zu sehen). Eine Fernsehkritik, mit Anknüpfung an Claude Lévi-Strauss. 11.025 Zeichen. Online 31.5.2021 .html


Philippe Dayan ist Psychoanalytiker, die zentrale Figur der arte-TV-Serie In Therapie. In 35 Folgen zeigt diese Serie Therapiestunden mit fünf Analysanden in Philippes Pariser Altbauwohnung und von Philippe selbst bei seiner Supervisorin. Wir sehen die Zeit unmittelbar nach dem Terroranschlag auf das Pariser Bataclan im November 2015. Dieser Ausgangspunkt wirkt in die Geschicke der nebeneinander her laufenden Therapien. Sie werden lose zu einem kraftvollen Finale verknüpft.

Da ist also Philippe. In einer Folge geradezu expressiv, in einer anderen eher verhalten, manchmal aufgeräumt, dann wieder distanziert oder gar konfus. Dieses Verhaltensspektrum liegt weder an den Therapieverläufen, noch den Patienten, aber auch nicht an Drehbuch oder Regie. Es liegt am Schauspieler Frédéric Pierrot mit seinem enormen Repertoire, trotz Bindung an den Analytikerstuhl. An sich eher sanft und reserviert, „kann“ Pierrot fast zu viel. Regisseurkollektiv und die Schauspieler selbst scheinen ihre Figuren extra einzustellen. Irritierend. Manchmal.

So beunruhigt einerseits eine gewisse Inkonstanz von unvereinbaren Schattierungen in der Zeichnung Philippes. Andererseits die Gefahr des Overacting. Die Rollen und Texte fordern die wenigen Schauspieler der 35 Folgen sehr: den Einsatzkommandopolizisten Adel, die noch junge Chirurgin Ariane, die adoleszente Schwimmsportlerin Camille, die Bankkauffrau Léonora und ihr Ehemann und Gemüsehändler Damien, zuletzt die Supervisorin Esther, mit der Philippe über seinen verstorbenen Lehranalytiker und ihren Mann befreundet ist. Es wird ein derart furioses Spiel entfacht, dass ich mich frage: Können ein Polizist einer Sondereinheit und eine Chirurgin mit wenn auch ausgeprägter Emotionalität überhaupt zu so starken Auftritten vor einem erfahrenen Psychoanalytiker kommen? Und das mitunter schon in der ersten Stunde? Wie auch immer, Reda Kateb, die 39jährige Mélanie Thierry, die beinah kindliche Céleste Brunnquell gehen im Kommandomitglied, in der Chirurgin und der Schwimmerin so grandios auf, dass wir ihnen die Anflüge von Overacting gerne nachsehen.

Doch Inkonstanz und Overacting sind unvermeidlich. Sie sind notwendig. Wir haben es nicht nur mit Fiktion zu tun. Nicht etwa wird vorhandenes Analysematerial wiedergegeben. Wie immer, so auch In Therapie, verwandelt und verklärt damit Kunst ihren Stoff. Das ist also das Recht, ja die Pflicht von Schauspiel, Regie und Drehbuch.

Die Probleme der Inkonstanz und des Overacting im Fernsehen haben zudem mit dem Setting des therapeutischen Dialogs zu tun, mit einem Sich-Aufführen, wie es Psychotherapien eben fordern. Analysand*in soll die Verstellung erkennen und den Charakterpanzer ablegen. Die Analytiker*in wiederum ist angehalten, mit den Patienten bis in die Gesten hinein mitzugehen, um im richtigen Moment die erwartete Rolle der Mutter, des Vaters, der Partner*in zurückzuweisen. Geht es doch um den heilsamen Wechsel von Alltagsselbst und wahrem Selbst. Doch so ordentlich ist In Therapie nicht.

Philippe gibt etwas preis. Er erläutert der attraktiven Ariane seine Erfahrung mit seiner Biologie-Lehrerin, die er einst als Heranwachsender begehrte, vor deren angetragenen Kuss er aber floh. Diese Erzählung bringt Bewegung in die Stunde. Es gehört zum riskanten Spiel mit Ariane, in die sich Philippe längst verliebt hat und deren Werben er mehr und mehr nachgibt. Hier wird vorgeführt, wie die Übertragung zwischen Analytiker und Patient entgegen der Regel außer Kontrolle gerät.

Das Wesen der Übertragung hat der jüdische Docteur Philippe bereits in einer früheren Stunde so schön erklärt wie manch anderes Theorem auch. Doch Philippe ist auch unzufrieden mit Vielem, mit seiner Ehe, mit der sozialen Lage in Frankreich, mit seiner zu Ende gehenden Berufslaufbahn. Für Zweifel und Kritik an der Psychoanalyse und ihren Übertragungen ist also reichlich Platz, nicht nur von den Analysanden gegenüber Philippes Macht und Honorar, sondern auch von diesem als Wutbürger bei der Kontrollanalytikerin Esther: „Ich bin wütend auf Freud, diesem Wiener Kleinbürger, jüdisch und konservativ. Ich bin wütend auf Lacan, den großbürgerlichen Pariser Katholiken, genauso konservativ.“ (Folge 32, 11:37-11:50)

Übertragung ist aber auch künstlerische Energie, mit der Schauspieler letztlich ihr Publikum gewinnen, auch umgekehrt. Wie bei so manchem Phänomen der Welt des Theaters, das die Psychoanalyse für sich fruchtbar macht – Abreaktion, Acting-out, Identifizierung, Ödipuskomplex, Elektrakomplex, Narzißmus, Projektion, Szene, Urszene, kathartische Methode – , stellen sich die Akteur*innen von In Therapie so wie das Drehbuchautor*innen und die Regisseure mit ihrem ganzen Können den Problemen der Übertragung. Die schaupielerischen Herausforderungen gehen aber nicht nur auf das Konto der Darstellung der Psychoanalyse. Es ist eine gleichsam heilsame Rollenvermehrung, wie sie jeder Schauspieler zeigt.

Dargestellt werden muss der Auftritt des Psychonalytikers und die Privatperson, die der Analytiker mit seiner vernachlässigten Familie ist. Dargestellt werden muss die Ärztin, die die Schwerverletzten des Bataclan operiert, ihren frisch Verlobten betrügt und in der Analyse die Widersprüche ihres Lebens aufspürt. Dargestellt werden muss der Mann, der sich als Sohn eines traumatisierten Vaters erkennt, sein Funktionieren als Polizist im Bataclan zum Credo hat, der Affäre mit Ariane ausgesetzt ist und das Vertrauen in den Psychoanalytiker sucht. Dargestellt werden muss der Teenager, der mit seinem Patchwork-Familienleben trotz Suizidversuch zurechtkommt und sich beim väterlichen Docteur Philippe zur selbstachtenden jungen Frau wandelt.

Aber es gibt noch etwas. Was die Schauspieler der Patienten in Therapiesitzungen spielen, rührt die Akteure selbst. Wir wissen davon nichts. Aber wir spüren durch das Spiel hindurch die dünne Schicht der Persönlichkeiten mit einem von Ferne wehenden eigenen Flair an Kindheit und Schauspielunterricht, und dann kann „Abreagieren … auch spontan auftreten“. (Laplanche/Pontalis, Das Vokabular der Psychoanalyse)

Normalerweise werden Figuren im Theater wie im Film gespielt, wie komplex und gespalten auch immer. Hier, im Ablauf von fünf Therapien und der Kontrollanalyse Philippes bei Esther müssen von einer AkteurIn jeweils drei Personae bewältigt werden: die Rolle beim Analytiker, die fiktive Alltagsrolle und die dem/der Schaupieler/in eigene Person eines gewissen, nur höchst andeutungswseise erlaubten Selbsts. Die drei überschneiden sich. Sie für uns kraftvoll und ergreifend zu verschmelzen, macht die schauspielerische Leistung von In Therapie aus.

Die Serie ist am 4. Februar 2021 angelaufen. Angelaufen? Schon seit 28. Januar sind alle 35 Folgen mit ihren 20 bis 25 Minuten im TV-Stream auf arte.tv gratis verfügbar; und sie sind es noch bis 27. Juli. Für das traditionelle Publikum wurden die Folgen bis 18. März im Fünferpack donnerstags ab 21 Uhr 45 ausgestrahlt. So lässt sich lineares Fernsehen und Binging in der Serialität des Stoffs der Fiktion begründen.

Das von der israelischen Serie Be Tipul (2005-08) adaptierte Drehbuch mit der umwerfend schönen Sprache, im deutsch kongenial synchronisiert und gesprochen, verantworten die Ko-Produzenten und Ko-Regisseure Olivier Nakache und Éric Toledano (Ziemlich beste Freunde, 2011) mit maghrebinisch jüdischen Migrationshintergrund. Mehr als nur eine Serie, entpuppt sich In Therapie als informatives, packendes und berührendes Werk der Kunst. Man kann sich kaum eine spannendere Einführung in die Psychoanalyse vorstellen. Die Kraft des französischen Kinos scheint im Fernsehen ungebrochen mit französischer Katharsis weiterzuwirken. Und wie in der abréaction der Psychoanalyse wird das Schauspiel furios an seine Grenze getrieben.

Anknüpfung.

Hinsichtlich der Abreaktion hat Claude Lévi-Strauss 1949 in „Der Zauberer und seine Magie(dt. in Strukturale Anthropologie) Schamanismus und Psychoanalyse verglichen. Beide Formen der Behandlung von Leiden finden in einem Dreieck von kranker Person, Therapeut und Publikum statt. Während der Schamane die Kranheit in lebhafter Nachahmung „hervor“ ruft, infolge abreagiert und dadurch die spezifische Abreaktion nun der/des Kranken induziert, kann der Psychoanalytiker, nach der eigenen Lehranalyse zum sensitiven Zuhörer ausgebildet, mit einer gezielten, heißt reflektierten pro-vozierten Abreaktion durch die AnalysandIn den situativen Ursprung ihrer/seiner Störung wiederbeleben und kognitiv fruchtbar werden lassen. In beiden Formen ist Öffentlichkeit beteiligt. Mit einer „Projektion des sozialen Universums“ wird das psychische Universum heilend belebt, indem der normale Mangel an nichtformulierbar Bedeutetem und der pathologische Überschuß eines ziellosen Signifikanten zusammen mit dem Publikum in einen Ausgleich gebracht werden. Hier entspricht die Gruppe, die der Magier mit dem Kranken an die Probleme anpasst, der Öffentlichkeit, an die die Psychoanalyse den Kranken anpassteine Öffentlichkeit, so liesse sich Lévi-Strauss im Fall der Psychotherapie erweitern, die nicht nur Anpassung reguliert, sondern auch die eigene Unangepasstheit und Resistenz zum Vorschein bringen lassen kann. Es ist das Publikum der existierenden Schriften der Psychoanalyse hin zur Reaktivierung individuell eigener Problematiken und das Publikum noch nicht existierender Bewährung erst zu erprobender Hypothesen, welch letzteres den analytischen Prozess des Psychoanalytikers am Analysanden antezipiert. Im Fall von In Therapie, über Fernsehen, Film und Theater vermittelt, sieht das Publikum zu: theatrum mundi camerae, ein Kammerschauspiel, wie die Fernsehkritik In Therapie bezeichnete. Dann also das Modell der Tragödie, in die der Polizist Adel Chibane, ähnlich dem Ehepaar oder Ariane, hineinschlittert und die der Analytiker Dayan nicht nur nicht aufhalten kann, sondern unabsichtlich befördert. Bei Adel ist es der Abbruch der Analyse und die Selbstaufopferung im syrischen Bürgerkrieg, nachdem die analytisch errungene Erkenntnis seines kollektiv verdrängten Traumas ihn seine Schuldlosigkeit nicht erkennen lässt und keine Katharsis zulässt. So kehrt das kulturelle Dreieck Dichter-Tragöde-Publikum ins analytische Setting zurück. Ihm folgt aber nicht mehr der Hörsaal wie bei den von Charcot vorgeführten Hysterikerinnen und ihren teilnahmslosen Studenten, die die Katharsis der Tragödie durch therapeutische Behandlung beherrscht sahen. Vielmehr findet „in der Sprache … der Mensch ein Surrogat für die Tat, mit dessen Hilfe der Affekt nahezu ebenso ‚abreagiert‘ werden kann.“ (Josef Breuer/Sigmund Freud, Vorläufige Mitteilung, 1893) Und es ist das imaginär gespiegelte Wohnzimmer, in dem wir uns unsere eigene Katharsis vom Bildschirm herunter vorstellen mit aller Unmöglichkeit, die die hereinbrechende Realität nicht nur der Pariser ‚Außenwelt‘ signifiziert.

Peter Mahr © 2021

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