Universität Wien


Wimmer: Vorlesung WS 2006/07
180386 Philosophie im 20. Jahrhundert

7. Vorlesung 21. November 2006:
Dr. David Cortez:
Lateinamerikanische Identitätsdiskurse und Philosophie im 20. Jahrhundert

Radiogespräch zum Thema | Vorbemerkung | "Latinoamérica" | Identitätsdiskurse (Autoren) | Schlussfolgerungen | Literaturhinweise | Diskussion: Rassismus und Identität
Hinweis:
Zu diesem Thema können Sie ein Gespräch von David Cortez mit Franz M. Wimmer hören, das im September 2006 in Radio Orange gesendet wurde. Dieses Gespräch ist über die Philosophische Audiothek aus dem Internet abrufbar.

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I. Vorbemerkung
Zielsetzung:
Fragestellung Hypothese: Methode: Zum Seitenanfang


II. Einführung. - "Latinoamérica” als historischer Begriff
Lateinamerika? "Was bis jetzt sich hier ereignet, ist nur der Widerhall der Alten Welt und der Ausdruck fremder Lebendigkeit." (Hegel 1961, 147)

"Von Amerika und seiner Kultur, namentlich in Mexico und Peru, haben wir Nachrichten, aber bloß die, daß dieselbe eine ganz natürliche war, die untergehen mußte, sowie der Geist sich ihr näherte. ... Physisch und geistig ohnmächtig hat sich Amerika immer gezeigt und zeigt sich noch so." (Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschicht. Hg. Th. Litt. 1961, 140)

Historische Beschreibung (Wissenschaft)?
Kulturimperialismus (Ideologie)?
Philosophischer Diskurs?
          Zum Amerikabild Hegels und anderer Philosophen vgl. auch: F.M. Wimmer: Das Amerikabild deutscher Philosophen (1992). Im Internet abrufbar.

LATEINAMERIKANISCHE IDENTITÄT.- XX JAHRHUNDERT
1891: Martí, Nuestra América
1900: Rodó, Ariel
1924: Mariátegui, La unidad de la América Indo-española
1925: Vasconcelos, La raza cósmica
1942: Zea, En torno a una filosofía latinoamericana
1977: Dussel, Filosofía de la liberación
1978: Salazar Bondy, Existe una filosofía de nuestra América?
1990: García-Canclini, Culturas híbridas. Estrategias para entrar y salir de la modernidad
1996: Castro-Gómez, Crítica de la razón latinoamericana
2000: Mignolo, Local Histories / Global Designs. Coloniality, Subaltern Knowledges and Border Thinking

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III. Identitätsdiskurse und Philosophie (Autoren)
a) Identität als Zivilisationsdiskurs (Positivismus)

Juan Bautista Alberdi

"In Amerika ist alles, was nicht europäisch ist, barbarisch: es gibt keine größere Unterscheidung als diese: 1. – der Indigene, d.h. der Wilde; 2. – der Europäer, d.h. wir, die wir in Amerika geboren wurden und Spanisch sprechen, die wir an Jesus Christus glauben und nicht an Pillan (den Gott der indigenen Bevölkerung).” [Juan Bautista Alberdi (1852), in: Halperin Donghi, Tulio, Proyecto y construcción de una nación (Argentina 1846-1880), Biblioteca Ayacucho, Caracas, 1980, S. 90; deutsche Übersetzung dieses und aller folgenden Zitate: MMaga. Heike Wagner und Dr. David Gualberto Cortez Jimenez]

"Unsere Philosophie wird (…) eine Reihe von gegebenen Lösungen zu den Problemen sein, die die nationalen Schicksale interessieren; (...) die Gesetze, durch die wir zu unserem Ziel kommen müssen, d.h. zu unserer Zivilisation, (...).” [Juan Bautista Alberdi (Nachlass), in: Marquínez, Germán, ¿Qué es eso de filosofía latinoamericana?, Editorial El Búho, Bogotá, 1989, S. 26]
Identität als Zivilisationsdiskurs.- Bewertung
Neue Themen Kritik
Die Frage nach der Identität Lateinamerikas wird innerhalb der Frage der Moderne gestellt.
Positivismus wird eine Staatsideologie.
_ Autoritarismus
Rezeption:
+ Auguste Comte (Drei-Stadien-Gesetz)
+ Herbert Spencer (Evolutionismus)
+ Jeremy Bentham (Utilitarismus)

Ausschließung der indigenen Bevölkerung. _ Rassismus.

Projekte der nationalen Oligarchien und Neokolonialismus (USA).


b) Identität als Mestizajediskurs (Ästhetizismus)

José Vasconcelos:

"Eine Religion wie die christliche hat die amerikanischen Indianer in wenigen Jahrhunderten vom Kannibalismus zur relativen Zivilisation fortschreiten lassen." [José Vasconcelos, La raza cósmica, 18. Auflage, Espasa-Calpe, México, 1995, S. 12]

"Im spanischen Amerika (…) ist die Rassensynthese oder die integrale Rasse, gemacht aus dem Blut und dem Genie aller Völker, und eben deswegen ist sie fähiger zu wahrhaftiger Brüderlichkeit und zu wirklich universeller Vision.” [José Vasconcelos, La raza cósmica, 18. Auflage, Espasa-Calpe, México, 1995, S. 30]

Das "Gesetz des Geschmacks” als "Norm der menschlichen Beziehungen” [Vasconcelos 1925: 37]. Das "letzte Ende der Geschichte" ist "die Fusion der Völker und der Kulturen zu erreichen” [José Vasconcelos, La raza cósmica, 18. Auflage, Espasa-Calpe, México, 1995, S. 37 und 27].

"Und ich glaube, dass es einer empfindsamen/emotionalen (emotiva) Rasse wie der unseren gebührt, die Prinzipien einer Interpretation der Welt gemäß unserer Emotionen zu entwerfen.” [Vasconcelos (1927), in: Marquínez, Germán, ¿Qué es eso de filosofía latinoamericana?, Editorial El Búho, Bogotá, 1989, S. 58]

Identität als Mestizajediskurs.- Bewertung
Neue Themen Kritik
Kritik des Positivismus durch Rezeption des Vitalismus (Bergson und Nietzsche) und der Mystik. Enthistorisierung der kulturellen Prozesse durch Ästhetisierung der Geschichte.
Bewahrung der eigenen kulturellen Traditionen (Katholizismus). Mestizaje wird zur Anpassungs- bzw. Assimilationspolitik für die indigene Bevölkerung.
Kritik am Amerikanismus (USA). Antiimperialismus (USA), aber innerhalb der Interessen der Eliten und der neokolonialen Kulturpolitik Frankreichs.

 
c) Identität als Geschichtsdiskurs (Humanismus)
Leopoldo Zea:

"Geschichtsphilosophie, die beim Bewusstwerden der Knechtschaft und Abhängigkeit sich einfach in eine Philosophie verwandelt, die sich zum Ziel setzt, der Knechtschaft und Abhängigkeit ein Ende zu setzen, die uns im Laufe unserer Geschichte auferlegt wurden.” [Leopoldo Zea (1981) in: Marquínez, Germán, ¿Qué es eso de filosofía latinoamericana?, Editorial El Búho, Bogotá, 1989, S. 127]

"Die Philosophie beginnt in unserem Amerika, eine Philosopie seiner eigenen Geschichte zu werden." (Leopoldo Zea (1981), in: Marquínez, Germán, ¿Qué es eso de filosofía latinoamericana?, Editorial El Búho, Bogotá, 1989, S. 122)


Identität als Geschichtsdiskurs.- Bewertung
Neue Themen Kritik
Authentizität als Frage der lateinamerikanischen Identität: "Filosofía sin más". (Philosophieren, sonst nichts). Aufwertung der nationalen und lateinamerikanischen Geschichte.
_ Nationalismus.
Kritik am Historismus Hegels: Originalität und Universalität sind keine ausgrenzenden Konzepte. Teleologie der lateinamerikanischen Geschichte.
_ Humanismus der Oberschichten.
Lateinamerikanische Identität: "dialektische Bewegung des Bewusstseins”. Homogenisierung und Integration der kulturellen Differenzen in die Nation.


d) Identität als Befreiungsdiskurs
Enrique Dussel:

Für die "Befreiungsphilosophie [ist] (d)ie philosophisch-politische Frage folgende: es gibt keine nationale Befreiung gegenüber über die jeweiligen Imperien ohne die soziale Befreiung der unterdrückten Klassen." [Dussel (1975), in: Marquínez, Germán, ¿Qué es eso de filosofía latinoamericana?, Editorial El Búho, Bogotá, 1989, S. 134]

"Die Befreiungsphilosophie möchte die ganze Philosophie (von der Logik oder Ontologie bis zur Ästhetik oder Politik) vom Anderen, vom Unterdrückten, vom Armen her überdenken: das Nichtsein, der Barbar, das Nichts des ‚Sinnes’." [Dussel (1975), in: Marquínez, Germán, ¿Qué es eso de filosofía latinoamericana?, Editorial El Búho, Bogotá, 1989, S. 134]

"Das Volk ist als organisches Gefüge der Klassen, Ethnien und anderer unterdrückten Gruppen das historische Subjekt der authentischsten Kultur: der lateinamerikanischen Kultur des Volkes." [Enrique Dussel, Cultura Latinoamericana y Filosofía de la Liberación, in: Cristianismo y Sociedad, N. 80, México, 1984, S. 20]

Identität als Befreiungsdiskurs.- Bewertung
Neue Themen Kritik
Dependenztheorie als Analyse der modernen Gesellschaften. Interne, nationale Ursachen der "Unterentwicklung" werden ausgeblendet.
Engagement der Philosophen: Befreiung der Unterdrückten. Messianismus und Populismus der lateinamerikanischen Eliten.
Lateinamerikanische Identität:
+ "nationale Kultur des Volkes”
("cultura nacional popular”)
Interkulturalität und Gender sind kein zentrales Thema des Befreiungsdiskurses.

Kultur innerhalb der Globalisierungsprozesse wird nicht thematisiert: Medien, Hybridität.


Zusammenfassung.- Identitätsdiskurse als soziale Praktiken
Was drücken Identitätsdiskurse als soziale Praxis aus?

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IV. Schlussfolgerungen.
Was hat die Philosophie zur Ausarbeitung "lateinamerikanischer Identitätsdiskurse” beigetragen?

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V. Literaturhinweis
Beorlegui, Carlos, Historia del pensamiento filosófico latinoamericano. Una búsqueda incesante de la identidad, Universidad de Deusto, Bilbao, 2004.

Castro-Gómez, Santiago, Crítica de la razón latinoamericana, Puvil Libros, Barcelona, 1996.

Chaui, Marilena, Brasilien - Gründungsmythos und autoritäre Gesellschaft. In: polylog. Zeitschrift für interkulturelles Philosophieren, Nr. 10/11, 2004

Krumpel, Heinz: Philosophie in Lateinamerika: Grundzüge ihrer Entwicklung, Akademie Verlag, Berlin, 1992.

Marquínez, Germán, Qué es eso de filosofía latinoamericana?, Bogotá, 1989.

Wimmer, Franz, Ethnophilosophie-Ausweg oder Irrweg?, In: Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft, 24 (1995), H. 2, S. 159-167. Abrufbar im Internet

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In der Diskussion wurden v.a. rassistische Implikationen und Theorien angesprochen. Dazu vgl.:

Wimmer, Franz Martin: Rassismus und Kulturphilosophie (1988). Im Internet abrufbar
Wimmer, Franz Martin (Hg.): Rassismus und Kulturalismus. Mitteilungen des IWK (1997). Im Internet abrufbar

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Erstellt: Wintersemester 2006