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[An die Eltern] E Nr. 9

[Berlin-Steglitz, 19. Dezember 23]
 


Liebste Eltern, ist das doch eine Freude, einen solchen Brief zu bekommen, den Sonntagnachmittag bei Euch zu sehn, ruhig, den Vater kräftig zur Reise nach Podol (was macht Dolfi? ), Dich nach dem Bad auf dem Kanapee die Zeitung (leider im Halbdunkel) lesend. Das sind schöne Briefe. Und dann ist Valli da mit den zwei Hebräerinnen (wann werden sie mir hebräisch schreiben?) und Pepa, dem ich herzlich gratuliere, ist Prokurist geworden! Schöne Nachrichten, ja solche Sachen interessieren mich. - Die 80 K sind richtig angekommen, ich mache Euch doch ein wenig nervös, was ich daraus sehe, dass das Geldkouvert verschlossen war, nicht offen, wie Du fürchtetest (es wäre freilich auch so sicher wie in einer Wertheimkasse gewesen). - Wie ich schrieb, brauche ich bis zum 10. Jänner gar nichts und auch dann eigentlich nur Butter (und wenn das Fräulein ein Stückchen Linzer oder sonst etwas beipacken will, wird sie hier hochgerühmt werden) alles andere lohnt nicht das Porto, nicht einmal Eier, die jetzt hier 20 Pfennig, also 1·70 - 1·80 kosten, ungeheuere Preise, aber doch wohl billiger als die Prager Eier mit Porto, besonders da nicht alle fehlerfrei waren. Und Gries, Reis, Mehl lohnt ganz gewiß nicht, nur Butter. Aber etwas anderes: Sehr teuer ist das Waschen; bei sparsamen Verbrauch für 2 Monate etwa 120 - 160 K, dabei ungeplättet und hinsichtlich der Waschmittel nicht sehr zuverlässig. Würde es sich nicht lohnen, alle 1½ Monate die Wäsche nach Prag zu schicken? Freilich "da können wir ja gleich unter dem Tisch essen" könnte man dazu sagen. - Das Wetter, über das Ihr klagt, war hier bis jetzt gar nicht schlecht, trocken und nicht sehr kalt, wenig Nebel, ich war mit 1, 2 Ausnahmen jeden Tag draußen. Jetzt regnet es, aber nicht schlimm. - Meinem Zimmer trage ich auf, den Onkel sehr freundlich zu empfangen und zu behüten. Herzlichste Grüße allen       F


Frau Lise belastet bitte mit nichts anderem als dem Geld.




Postkarte, 14 x 9 cm, beide Seiten mit Tinte beschrieben, einschließlich der Adresse: Hermann Kafka, Prag, Staroměstská náměstí č 6/III poschodí, Tschechoslowakei. Frankierung zum Teil abgelöst.

Undatiert; Zuordnung nach dem Poststempel: 19.12.23, bestimmt.


1] Podol:Der Zusammenhang konnte nicht ermittelt werden.


2] Dolfi: Nicht ermittelt.


3] Valli: (Valerie) Pollak, Kafkas mittlere Schwester (vgl. Nr. 3, Anm.10); mit den zwei Hebräerinnen sind zweifellos ihre Töchter Marianne (geh. 1913) und Lotte (1914-1931) gemeint. Ob Lotte Fortschritte im Hebräischen mache, fragt Kafka seine Schwester Valli in einem Brief aus der ersten Novemberhälfte 1923 (Br, 463). Er erreichte auch, dass Lotte die 1920 gegründete jüdische Schule besuchte (BH I, 567).


4] Pepa: Gemeint ist Josef Pollak, der Ehemann von Valli, der zum Prokuristen bei der Firma Fuchs ernannt worden war.


5] das Fräulein: Vgl. Nr. 3, Anm.9.


6] den Onkel: Siegfried Löwy, der "Landarzt" in Triesch (Třešt'), bei dem Kafka früher Ferien und Urlaube verlebte und der während dieses Besuches in Prag in Franz' Zimmer wohnte.


7] Frau Lise: Lise Kaznelson, Frau von Dr. Siegmund Kaznelson (vgl. Nr. 12, Anm. 14), Schwester von Robert und Kusine von Felix Weltsch, zusammen mit Kafka auf dem bekannten Flugzeug-Foto aus dem Jahre 1913 im Wiener Prater, stand mit Kafka während dessen Berliner Aufenthaltes in Verbindung und war, wie ersichtlich, eine der Geld-"Boten" der Familie.

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at