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Verehrter Herr Direktor!

Ich erlaube mir mitzuteilen, dass ich gern einige Zeit in Steglitz bei Berlin bleiben möchte, und bitte, diesen Umstand folgendermaßen kur. erklären Zu dürfen:

Der Zustand meines Lungenleidens war im Herbst und im Winter vergangenen Jahres nicht gut und wurde noch durch schmerzhafte Magen- und Darmkrämpfe ziemlich unklaren Ursprungs, die sich damals mehrere Male in voller Stärke einstellten, verschlechtert. Das Lungenfieber und die Krämpfe waren die Ursache dafür, dass ich einige Monate lang das Bett fast nicht verlassen habe.

Seit dem Frühjahr haben sich diese meine Beschwerden gebessert, wurden aber von vollständiger Schlaflosigkeit abgelöst, einer Krankheit, an der ich, als an einer Begleiterscheinung meines Lungenleidens, zwar schon Jahre hindurch gelitten habe, aber doch nur zeitweise und niemals absolut, immer nur aus bestimmten Anlässen, dieses Mal aber ohne sie und anhaltend; die Schlafmittel haben fast nichts geholfen. Dieser Zustand, der fast an Unerträglichkeit grenzte, hat einige Monate lang angedauert und dazu noch die Lungen verschlechtert.

Im Sommer bin ich mit Hilfe meiner Schwester - allein war ich weder zu irgendwelchen Entschlüssen noch Unternehmungen fähig - nach Müritz an die Ostsee gefahren; meine Krankheit hat sich dort zwar im wesentlichen nicht gebessert, es hat sich mir aber die Möglichkeit geboten, für den Herbst nach Steglitz zu fahren, wo sich Freunde etwas um mich kümmern wollten, was freilich unter den Berliner Verhältnissen, die schon damals schwierig waren, eine unumgängliche Voraussetzung für meine Reise war, denn mit Rücksicht auf meinen Gesundheitszustand könnte ich in einer fremden Stadt überhaupt nicht allein Leben.

Nützlich erschien mir ein zeitweiliger Aufenthalt in Steglitz unter anderem aus folgenden Gründen:

1. Von einem völligen Wechsel der Umgebung und allen seinen Folgen versprach ich mir einen günstigen Ein fluß hauptsächlich auf meine Nervenkrankheit. An das Lungenleiden habe ich erst in zweiter Linie gedacht, weil es in meinem Zustand notwendiger war, sofort etwas für meine Nerven zu unternehmen.

2. Es stellte sich aber heraus, dass die Ortswahl zufällig - wie mir auch ein Prager Arzt, der Steglitz kennt, voraussagte - auch für mein Lungenleiden nicht ungünstig war. Steglitz ist ein halb ländlicher Vorort Berlins, der einer Gartenstadt gleicht. Ich wohne in einer kleinen Villa mit Garten; ein halbstündiger Weg führt durch die Gärten zum Walde, der Botanische Garten ist 10 Minuten entfernt, andere Anlagen sind ebenfalls in der Nähe, und von meinem Wohnsitz führt jeder Weg durch Gärten.

3. Ebenfalls etwas richtungweisend für meinen Entschluß war schließlich die Hoffnung, dass ich in Deutschland mit meiner Pension leichter auskommen werde als in Prag. Diese Erwartung erfüllt sich freilich nicht. In den vergangenen zwei Jahren wäre das sicher so gewesen, aber gerade jetzt im Herbst hat die Teuerung hier die Weltpreise erreicht und vielfach bedeutend überschritten, so dass ich mühsam auskommen kann, und das auch nur, weil mich die Freunde beraten und weil ich bisher keine ärztliche Behandlung in Anspruch genommen habe.

Insgesamt kann ich die Nachricht geben, dass sich der Aufenhalt in StegLitz bisher günstig auf meinen Gesundheitszustand auswirkt. Ich möchte deshalb sehr gern hier noch einige Zeit bleiben, freilich unter der Voraussetzung, dass mich die Teuerungsverhältnisse nicht vorzeitig zur Rückkehr zwingen.

Ich bitte höflich, verehrter Herr Direktor, um die Zustimmung der Anstalt zu meinem hiesigen Aufenthalt und erlaube mir die weitere Bitte hinzuzufügen, meine Pensionsbezüge weiterhin an die Adresse meiner Eltern zu überweisen.

Zur Erklärung der zweiten Bitte möchte ich bemerken, dass jede andere Art von Überweisung mich finanziell schädigen würde, und bei der Bescheidenheit meiner Mittel wäre der geringste Geldverlust sehr spürbar für mich. Schaden würde ich bei einer anderen Art der Überweisung deshalb erleiden, weil sie entweder in Mark (dann würde ich den Kursverlust und die Auslagen tragen) oder in tschechischen Kronen (dann würden mich noch größere Auslagen treffen) durchgeführt würde, während sich meinen Eltern immer irgendeine Möglichkeit bieten wird, mir das Geld kostenlos und gelegentlich gleich für zwei Monate mit irgendeinem Bekannten zu schicken, der nach Deutschland kommt. Bei der Überweisung des Geldes an meine Eltern fallen natürlich nicht eventuell erforderliche Lebensbescheinigungen weg, über deren Form und zeitliche Termine ich höflich um Information bitte und die ich von hier direkt an die Anstalt senden würde.

Indem ich, verehrter Herr Direktor, Sie erneut höflich bitte, mein heutiges Ersuchen, das für mich von nicht geringer Wichtigkeit ist, günstig zu beurteilen, grüße ich Sie herzlich und zeichne mit dem Ausdruck tiefer Ehrfurcht


Berlin-Steglitz. 20. Dezember 23

Dr. F. Kafka Berlin-Steglitz
 

Grunewaldstraße 13

bei Hr. Seifert


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at