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Max Brod an Franz Kafka

[Prag ]

3/7 [1922]
 

Lieber,

Die politischen Schrecknisse waren doch auch anderer Art: Bedrohung der Balfour-Deklaration, erst in letzter Zeit wieder etwas geklärter - ich habe Nächte lang deshalb nicht schlafen können und mich immer wieder gefragt, ob wir wirklich um so viel schlechter, wertloser sind als andere Völker, Serben, Tschechen u.s.f., dass wir nicht zu unserer Würde eines staatenbildenden Volkes gelangen können, es so furchtbar schwer haben mit jedem Schritt. - Nun scheint es ja, dass das englische Oberhaus, das sich gegen Balfour erklärt hat, seltsamerweise im englischen Verfassungsleben ohne Einfluß ist. Ich lege den heute eingelangten Artikel Bergers bei, der mich beruhigt. - Du hast hoffentlich von der ganzen Sache nichts gewußt. Im "Prager Tagblatt" stand eine kleine Notiz, die uns so alarmiert hat. Nachher erst wird man über eine Lücke in seiner Bildung (pcto. englische Verfassung) belehrt, und die ganze Aufregung war unnütz.

    Dazu der Marksturz - der mir Emmys wegen Sorge macht.

    Und sie selbst - ihre Briefe waren gar nicht "untadelig". Das ist es eben. - Sie hat eine Schwester, diese hübsche aus Berlin, zu Urlaubsbesuch - und irgendwie, nicht ganz klar, hängt es damit zusammen, dass sie nun wieder mit dem Studenten verkehrt. Als ich dann einen Brief um einen Tag später als verabredet schickte (einfach deshalb weil ich mir hundertfach überlegte, auf welche Art ich von diesem Studenten nichts, gar nichts in meiner Antwort erwähnen werde), - kam ein Jammerbrief von ihr, sehr rührend, angstvoll - ob ich etwa wie Rathenau u.s.f. (nicht den Worten, aber dem Sinne nach) - Leider gibt es auch für diesen schönen Brief eine zweite, böse Deutung: das schlechte Gewissen.

    Doch habe ich eigentlich alle diese Wahnvorstellungen, deren es kein Ende gibt, in meine Novelle eingefangen.-Vorgestern habe ich sie so ungefähr beendet. Das heißt: die letzten Worte geschrieben- aber es ist noch viel zu bessern. - Diesmal war es komisch: Je besser ich schrieb, dem Ende entgegen, desto ärger häuften sich Hindernisse. Die Schlußkatastrophe störte der Klavierstimmer im Nebenzimmer, den ich vor längerer Zeit bestellt hatte und der zu ganz ungelegenster Stunde eintraf, natürlich unaufhaltsam an die Arbeit gierig. - Ich habe trotzdem geschrieben.

    Mit Emmy ist es so: ich zittere jetzt (wenigstens in der heutigen, gestrigen u.s.f. Stimmung) nicht mehr so verrückt um sie, - aber wenn solch eine Trübung auftaucht, so verschwindet der unendliche Horizont dieser Beziehung - eigentlich so: es verschwindet der Blick auf die Dauerhaftigkeit, der bei mir mit zu meiner Art von Erotik gehört. Am schönsten war es diesmal, wenn ich mit ihr durch den Thiergarten fuhr, Abends, und ihr erzählte, wie ich viel Geld verdienen und ihr irgendwo am Wannsee eine Villa kaufen würde, - ein gemeinsames Haus für uns beide und ein Kind, eine Zufluchtsstätte, wo wir einander zuweilen für Tage oder Wochen zu gemeinsamem Leben treffen. - Solch ein schöner Traum bricht sofort nieder, wenn Emmy - nicht etwa untreu wird (das glaube ich durchaus nicht), aber doch etwas tut, wogegen ich mich wehren muß. Wenn ich fühle, dass ich gegen sie fühle, nicht in gleicher Richtung. - Dann denke ich: Warum gerade diese? Welche Illusion! Ich hätte ja auch etwa Blanche Desgan u.s.f. -Das ist dann ein Trost, dieser Blick auf die Möglichkeiten, - aber dieser Trost vernichtet das Wirkliche in mir (du brauchst mich nicht zu erinnern, wie imaginär dieses Wirkliche ist und dass der Traum von der Villa einen Palästina-Traum als Ergänzung verlangt ...)

    Es kommt mir vor, als ob ich noch immer an der Novelle Weiterschriebe. - Ich möchte dir gern den Schluß vorlesen. Schreibe mir, wann du in Prag bist. Soll ich die Absendung an Wolff so lange zurückhalten? - Besuch bei Frau Preiss empfehle ich nicht. Wohl aber, dass du an Kayser (y, nicht i) wegen des Auslands schreibst. - Gibt es auch im Wald keine Ruhe?? Grüße mir Ottla und schreibe bald!

Max        


Wie geht es deiner Gesundheit? Schreitet der Roman fort?



Quelle: Franz Kafka ; Max Brod: Eine Freundschaft (II). Briefwechsel. Hrsg. von Malcolm Pasley. Frankfurt am Main 1989.


Balfour-Deklaration: Die Erklärung des Außenministers Lord Balfour im November 1917, welche den Juden die Unterstützung der britischen Regierung für die Errichtung einer nationalen Heimstätte in Palästina zusicherte.


Absendung an Wolff: Es handelt sich vermutlich um die Erzählung "Ein Hungerkünstler", denn Kafka hatte, soweit bekannt, damals kein anderes fertiges Werk anzubieten. In dem Fall wäre zu folgern, dass Kafka zu diesem Zeitpunkt zwischen den Möglichkeiten Kurt Wolff (der die Erzählung sicherlich angenommen hätte) und Rudolf Kayser (der sich anscheinend noch nicht festlegen wollte) schwankte. Siehe Anm.16 oben.


der Roman: "Das Schloß".


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at