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An Milena Jesenská

[Prag, 4. August 1920]
Mittwoch
 

Über das was Du zu meiner Reise schreibst (čekáš až to Tobě bude nutná) [Du wartest bis es Dir nötig ist] lese ich lieber hinweg erstens ist es ja veraltet zweitens tut es weh, es ist allerdings auch Berechtigung darin, warum wären die Samstagabendund Sonntagmorgenbriefe so verzweifelt gewesen? und drittens sehen wir uns ja vielleicht schon Samstag (Das erste der 3 Telegramme scheinst Du Montag früh noch nicht gehabt zu haben, hoffentlich bekommst Du das dritte rechtzeitig).

Die Verzweiflung über des Vaters Brief verstehe ich nur soweit, dass Dich jede neue Bestätigung des doch schon so lange andauernden quälendsten Verhältnisses von neuem verzweifelt macht. Neues kannst Du doch aus dem Brief nicht herauslesen. Nicht einmal ich, der ich noch niemals einen Brief des Vaters gelesen habe, lese etwas Neues heraus. Er ist herzlich und tyrannisch und glaubt tyrannisch sein zu müssen, wenn er dem Herzen genügen soll. Die Unterschrift hat wirklich wenig zu bedeuten, ist nur Repräsentation des Tyrannen, oben steht doch "líto" ["leid"] und "Strašně smutně" ["schrecklich traurig"], das hebt alles auf.

Allerdings, vielleicht erschreckt Dich das Mißverhältnis zwischen Deinem Brief und seinem, nun, Deinen Brief kenne ich nicht, dann aber denke andererseits an .das Mißverhältnis zwischen seiner " selbstverständlichen" Bereitwilligkeit und Deinem "unverständlichen" Trotz.

Nun hast Du wegen der Antwort Zweifel? Oder vielmehr Zweifel gehabt, denn Du schreibst, jetzt wüßtest Du schon, was Du antworten sollst. Das ist merkwürdig. Wenn Du schon geantwortet hättest und mich fragen würdest: "Was habe ich geantwortet?" würde ich ohne jedes Zögern sagen, was Du meiner Meinung nach geantwortet hast.

Natürlich, daran ist gar kein Zweifel, zwischen Deinem Mann und mir ist vor Deinem Vater gar kein Unterschied, für den Europäer haben wir das gleiche Negergesicht, aber abgesehen davon, dass Du im Augenblick darüber nichts Sicheres sagen kannst, warum gehört das in den Antwortbrief? Und warum soll Lüge nötig sein?

Ich glaube, Du kannst nur das antworten, was einer, der, fast ohne anderes zu sehn, gespannt und mit Herzklopfen Deinem Leben zusieht, Deinem Vater, wenn er in ähnlicher Weise von Dir reden würde, sagen müßte: "Alle "Vorschläge", alle "bestimmten festen Bindungen" sind sinnlos, Milena lebt ihr Leben und wird kein anderes leben können. Milenas Leben ist zwar traurig, aber so "gesund und ruhig" wie im Sanatorium ist es noch immerhin. Milena bittet Sie nur darum, dass Sie das endlich einsehn, sonst bittet sie um gar nichts, insbesondere um keine "Einrichtung". Sie bittet Sie nur darum, dass Sie sich ihr gegenüber nicht krampfhaft abschließen, sondern Ihrem Herzen folgen und so mit ihr sprechen wie ein Mensch mit einem gleichwertigen Menschen. Werden Sie das einmal tun, dann werden Sie Milenas Leben viel von seiner "Traurigkeit" genommen haben und sie wird Ihnen nicht mehr "leid" tun müssen."


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Was meinst Du damit, dass die Antwort für den Vater auf Deinen Geburtstag fällt? Ich fange wirklich an Angst zu haben wegen des Geburtstags. Ob wir uns Samstag sehen oder nicht, telegraphiere mir bitte jedenfalls am Abend des roten August.


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Wenn es Dir doch möglich wäre, Samstag oder wenigstens Sonntag in Gmünd zu sein! Es ist wirklich sehr notwendig.

Dann wäre ja eigentlich dies der letzte Brief; den DU bekommst, ehe wir uns von Gesicht zu Gesicht sehen werden. Und diese eigentlich seit einem Monat unbeschäftigten Augen (nun ja, Briefe lesen, aus dem Fensterschauen) werden Dich sehn.


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Der Aufsatz ist viel besser als im Deutschen, Löcher hat er allerdings noch immer oder vielmehr man geht in ihm wie in einem Sumpf, jedes Fuß-herausziehn ist so schwer. Letzthin sagte mir ein Tribuna-Leser, ich müßte große Studien im Irrenhaus gemacht haben. "Nur im eigenen" sagte ich, worauf er mir noch Komplimente wegen des "eigenen Irrenhauses" zu machen suchte. (2, 3 kleine Mißverständnisse sind in der Obersetzung).

Ich lasse mir die Übersetzung noch ein Weilchen.


am linken Rand der ersten Briefseite (Beschriftung bis Tyrannen, oben): Der Markensammler ist entzückt, eine so aufrichtige Freude.




1] des Vaters Brief: Milena hatte einen Brief ihres Vaters - den ersten, den sie seit drei Jahren von ihm erhalten hatte - Kafka zum Lesen geschickt.


2] auf Deinen Geburtstag fällt: Milena nahm wohl an, dass ihr Brief ihren Vater am 10. August erreichen würde.


3] Der Aufsatz: Offenbar hatte Milena ihm die erbetene Übersetzung von Gustav Landauers Hölderlin-Aufsatz geschickt. Vgl. Brief vom [24. Juli 1920], Anm. 2.


4] Übersetzung: Vermutl. "Unglücklichsein". Vgl. Brief vom [21. Juli 1920], Anm. 1.

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at