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An Milena Jesenská
Über das was Du zu meiner Reise schreibst (čekáš
až to Tobě bude nutná) [Du wartest bis es Dir nötig
ist] lese ich lieber hinweg erstens ist es ja veraltet zweitens tut es
weh, es ist allerdings auch Berechtigung darin, warum wären die Samstagabendund
Sonntagmorgenbriefe so verzweifelt gewesen? und drittens sehen wir uns
ja vielleicht schon Samstag (Das erste der 3 Telegramme scheinst Du Montag
früh noch nicht gehabt zu haben, hoffentlich bekommst Du das dritte
rechtzeitig).
Die Verzweiflung über des Vaters Brief verstehe ich
nur soweit, dass Dich jede neue Bestätigung des doch schon so
lange andauernden quälendsten Verhältnisses von neuem verzweifelt
macht. Neues kannst Du doch aus dem Brief nicht herauslesen. Nicht einmal
ich, der ich noch niemals einen Brief des Vaters gelesen habe, lese etwas
Neues heraus. Er ist herzlich und tyrannisch und glaubt tyrannisch sein
zu müssen, wenn er dem Herzen genügen soll. Die Unterschrift
hat wirklich wenig zu bedeuten, ist nur Repräsentation des Tyrannen,
oben steht doch "líto" ["leid"] und "Strašně
smutně" ["schrecklich traurig"], das hebt alles
auf.
Allerdings, vielleicht erschreckt Dich das Mißverhältnis zwischen
Deinem Brief und seinem, nun, Deinen Brief kenne ich nicht, dann aber denke
andererseits an .das Mißverhältnis zwischen seiner " selbstverständlichen"
Bereitwilligkeit und Deinem "unverständlichen" Trotz.
Nun hast Du wegen der Antwort Zweifel? Oder vielmehr Zweifel gehabt, denn
Du schreibst, jetzt wüßtest Du schon, was Du antworten sollst.
Das ist merkwürdig. Wenn Du schon geantwortet hättest und mich
fragen würdest: "Was habe ich geantwortet?" würde
ich ohne jedes Zögern sagen, was Du meiner Meinung nach geantwortet
hast.
Natürlich, daran ist gar kein Zweifel, zwischen Deinem Mann und mir
ist vor Deinem Vater gar kein Unterschied, für den Europäer haben
wir das gleiche Negergesicht, aber abgesehen davon, dass Du im Augenblick
darüber nichts Sicheres sagen kannst, warum gehört das in den
Antwortbrief? Und warum soll Lüge nötig sein?
Ich glaube, Du kannst nur das antworten, was einer, der, fast ohne anderes
zu sehn, gespannt und mit Herzklopfen Deinem Leben zusieht, Deinem Vater,
wenn er in ähnlicher Weise von Dir reden würde, sagen müßte:
"Alle "Vorschläge", alle "bestimmten festen
Bindungen" sind sinnlos, Milena lebt ihr Leben und wird kein anderes
leben können. Milenas Leben ist zwar traurig, aber so "gesund
und ruhig" wie im Sanatorium ist es noch immerhin. Milena bittet
Sie nur darum, dass Sie das endlich einsehn, sonst bittet sie um gar
nichts, insbesondere um keine "Einrichtung". Sie bittet Sie
nur darum, dass Sie sich ihr gegenüber nicht krampfhaft abschließen,
sondern Ihrem Herzen folgen und so mit ihr sprechen wie ein Mensch mit
einem gleichwertigen Menschen. Werden Sie das einmal tun, dann werden Sie
Milenas Leben viel von seiner "Traurigkeit" genommen haben
und sie wird Ihnen nicht mehr "leid" tun müssen."
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Was meinst Du damit, dass die Antwort für den Vater auf
Deinen Geburtstag fällt? Ich fange wirklich an Angst zu haben
wegen des Geburtstags. Ob wir uns Samstag sehen oder nicht, telegraphiere
mir bitte jedenfalls am Abend des roten August.
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Wenn es Dir doch möglich wäre, Samstag oder wenigstens Sonntag
in Gmünd zu sein! Es ist wirklich sehr notwendig.
Dann wäre ja eigentlich dies der letzte Brief; den DU bekommst, ehe
wir uns von Gesicht zu Gesicht sehen werden. Und diese eigentlich seit
einem Monat unbeschäftigten Augen (nun ja, Briefe lesen, aus dem Fensterschauen)
werden Dich sehn.
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Der Aufsatz ist viel besser als im Deutschen, Löcher
hat er allerdings noch immer oder vielmehr man geht in ihm wie in einem
Sumpf, jedes Fuß-herausziehn ist so schwer. Letzthin sagte mir ein
Tribuna-Leser, ich müßte große Studien im Irrenhaus gemacht
haben. "Nur im eigenen" sagte ich, worauf er mir noch Komplimente
wegen des "eigenen Irrenhauses" zu machen suchte. (2, 3 kleine
Mißverständnisse sind in der Obersetzung).
Ich lasse mir die Übersetzung noch ein Weilchen.
am linken Rand der ersten Briefseite (Beschriftung bis Tyrannen,
oben): Der Markensammler ist entzückt, eine so aufrichtige Freude.
1] des Vaters Brief: Milena hatte einen Brief ihres
Vaters - den ersten, den sie seit drei Jahren von ihm erhalten hatte -
Kafka zum Lesen geschickt.
2] auf Deinen Geburtstag fällt: Milena nahm
wohl an, dass ihr Brief ihren Vater am 10. August erreichen würde.
3] Der Aufsatz: Offenbar hatte Milena ihm die erbetene
Übersetzung von Gustav Landauers Hölderlin-Aufsatz geschickt.
Vgl. Brief vom [24. Juli 1920], Anm. 2.
4] Übersetzung: Vermutl. "Unglücklichsein".
Vgl. Brief vom [21. Juli 1920], Anm. 1.
Mittwoch
Letzte Änderung: 17.4.2009 werner.haas@univie.ac.at