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An Milena Jesenská

[Prag, 2. bis 3. August 1920]
Montag abend
 

Es ist schon spät, nach einem trotz allem etwas trüben Tag. Morgen kommt wohl kein Brief von Dir, den von Samstag habe ich, einen von Sonntag könnte ich erst übermorgen bekommen, der Tag wird also frei vom unmittelbaren Einfluß eines Briefes sein. Merkwürdig wie mich Deine Briefe blenden Milena. Ich fühle doch seit einer Woche oder länger dass Dir etwas geschehen ist, etwas Plötzliches oder Allmähliches, etwas Grundsätzliches oder Gelegentliches, etwas klar oder nur halb Bewußtes; dass es da ist weiß ich jedenfalls. Ich erkenne es nicht so sehr aus Einzelnheiten der Briefe, trotzdem auch solche Einzelnheiten vorhanden sind, wie, dass die Briefe voll Erinnerungen sind (und ganz besonderer Erinnerungen voll) dass Du zwar wie sonst auf alles antwortest aber doch nicht auf alles, dass Du traurig bist ohne Grund, dass Du mich nach Davos schickst, dass Du so plötzlich diese Zusammenkunft willst (Du hattest meinen Rat nicht her zu kommen, sofort hingenommen; Du hattest Wien für ungeeignet erklärt dort zusammenzukommen; Du hattest gesagt vor Deiner Reise sollen wir nicht zusammenkommen und jetzt in zwei, drei Briefen diese Eile. Ich müßte mich ja sehr darüber freuen, aber ich kann nicht, denn irgendeine geheime Angst ist in Deinen Briefen, ob für mich, ob gegen mich, das weiß ich nicht und Angst ist in dieser Plötzlichkeit und Eile, mit der Du die Zusammenkunft willst. Sehr froh bin ich jedenfalls dass ich eine Möglichkeit gefunden habe und eine Möglichkeit ist es doch gewiß. Solltest Du nicht über Nacht außerhalb Wiens bleiben können, läßt sich mit Opferung von paar gemeinsamen Stunden auch das erreichen. Du fährst mit dem Sonntagschnellzug gegen 7 Uhr früh nach Gmünd (sowie ich damals) kommst dort um 10 Uhr an, ich erwarte Dich und da ich erst um ½5 nachmittag wegfahre, sind wir doch immerhin 6 Stunden beisammen. Du fährst dann mit dem Abendschnell zug nach Wien zurück und bist dort um ¼ 12, ein kleiner Sonntagsausflug.)

Also deshalb bin ich unruhig oder vielmehr ich bin nicht unruhig, so groß ist Deine Macht. Statt unruhiger zu sein als unruhig weil Du schreibend etwas verschweigst oder verschweigen mußt oder unwissend verschweigst, statt also dadurch noch unruhiger zu werden, bleibe ich ruhig, so groß ist ungeachtet Deines Aussehens mein Vertrauen zu Dir. Verschweigst Du etwas, wird auch dieses Verschweigen richtig sein, denke ich.

Aber noch aus einem andern wirklich außerordentlichem Grunde bleibe ich demgegenüber ruhig. Du hast eine Eigentümlichkeit - ich glaube, sie gehört tief zu Deinem Wesen und es ist Schuld der andern wenn sie nicht überall wirkt - die ich noch bei niemandem gefunden habe ja die ich mir, trotzdem ich sie hier gefunden habe, doch nicht eigentlich vorstellen kann. Es ist die Eigentümlichkeit, dass Du nicht leiden machen kannst. Nicht etwa aus Mitleid kannst Du nicht leiden machen, sondern deshalb weil Du es nicht kannst. Nein, das ist phantastisch, fast den ganzen Nachmittag habe ich darüber nachgedacht, jetzt aber wage ich es nicht aufzuschreiben, vielleicht ist das Ganze doch nur eine mehr oder minder großartige Entschuldigung für ein Umarmen.

Und jetzt ins Bett. Was Du wohl jetzt tust, Montag gegen 11 Uhr abends?


Dienstag

So wenig Menschenkenntnis, Milena. Ich sagte es ja seit jeher. Gut, Else ist erkrankt, das wäre möglich und man müßte deshalb vielleicht nach Wien fahren, aber die alte Tante Klara schwer (erkrankt)? Glaubst Du denn ich könnte, von allem andern abgesehn, zum Direktor gehn und ohne zu lachen von der Tante Klara erzählen? (Natürlich, darin liegt wieder Menschenkenntnis, hat unter Juden jeder eine Tante Klara, aber die meine ist schon lange tot.) Also das ist ganz unmöglich. Gut, dass wir sie nicht mehr brauchen. Mag sie sterben, sie ist ja doch nicht allein, Oskar ist bei ihr. Allerdings, wer ist Oskar? Tante Klara ist Tante Klara, aber wer ist Oskar? Immerhin, er ist bei ihr. Hoffentlich wird er nicht auch krank, der Erbschleicher.


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Doch ein Brief und dieser! Für die Abendbriefe gilt das nicht, was ich anfangs sagte, aber diese (wie ich sagte: ruhige) Beunruhigung kann, da sie einmal da ist, auch vor ihnen nicht schwinden. Wie gut ist es dass wir einander sehn werden. Vielleicht telegraphiere ich Dir morgen oder übermorgen (Ottla ist heute schon um den Paß gegangen) ob ich schon diesen Samstag nach Gmünd kommen könnte (für Wien ist es diese Woche jedenfalls zu spät, denn es müßte die Sonntagsschnellzugskarte gekauft werden). Du antwortest mir telegraphisch, ob auch Du kommst. Geh also immer auch Abend zur Post, damit Du das Telegramm bald bekommst. Es wird also so sein: Ich werde telegraphieren: "unmöglich" d. h. dass ich diese Woche nicht kommen kann. Dann erwarte ich keine telegraphische Rückantwort und wir besprechen das andere brieflich (die Zusammenkunft für die nächsten q. Wochen hängt natürlich davon ab, wohin Du aufs Land fährst, wahrscheinlich wohl weiter weg von mir, nun dann könnten wir uns einen Monat lang nicht sehn.) Oder aber ich telegraphiere: "Kann Samstag in Gmünd sein." Darauf erwarte ich als Rückantwort entweder "Unmöglich" oder aber "Bin Samstag in Gmünd" oder "Bin Sonntag in Gmünd." In diesen beiden letzteren Fällen ist es also abgemacht es braucht kein weiteres Telegrahieren (nein damit Du Sicherheit hast, dass Dein Telegramm angekommen ist, werde ich es noch bestätigen), wir fahren beide nach Gmünd und sehn uns noch diesen Samstag oder Sonntag. Das klingt ja alles sehr einfach.


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Fast zwei Stunden verloren, mußte den Brief weglegen: Otto Pick war da. Ich bin müde. Wann sehn wir uns? Warum bekommt man in 1½ Stunden kaum 3mal Deinen Namen zu hören? Selbst wenn man Concessionen macht, zugibt, dass man in Wien war, allerdings mit niemandem gesprochen hat, unser Beisammensein war doch kein "Sprechen"? Wo bist Du? Auf der Fahrt in das Dorf, wo die Hütte steht? Ich bin auch auf der Fahrt, es ist eine lange Reise. Quäl Dich doch aber nicht deshalb, bitte, jedenfalls sind wir doch auf der Fahrt, mehr als Wegfahren kann man nicht.




1] nach Davos schickst: Kafka bezieht sich auf einen zwischen Milena und Max Brod erwogenen Plan, ihm zu einem Aufenthalt in einem Lungensanatorium des Schweizer Luftkurortes zu verhelfen.


2] Else ist erkrankt: Vgl. Brief vom [31. Juli 1920] Samstag abend, Anm. 1.


3] Tante Klara: Klara Kafka, Ehefrau seines Onkels Filip (ältester Bruder seines Vaters), war 1908 gestorben.


4] Otto Pick: Diesen Besuch erwähnt Kafka auch in einem Brief an Brod (»Briefe«, S. 280); vgl. auch Brief vom [6. Juli 1920], Anm. 2.


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at