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An Milena Jesenská

[Meran, April 1920]
 

Liebe Frau Milena, Sie mühn sich mit der Übersetzung inmitten der trüben Wiener Welt. Es ist irgendwie rührend und beschämend für mich. Von Wolff dürften Sie wohl schon einen Brief bekommen haben, wenigstens schrieb er mir schon vor längerer Zeit von einem solchen Brief. Eine Novelle "Mörder" die in einem Katalog angezeigt gewesen sein sollte, habe ich nicht geschrieben, es ist ein Mißverständnis; da sie aber die beste sein soll, mag es doch auch wieder richtig sein.

Nach Ihrem letzten und vorletzten Brief scheinen Unruhe und Sorge Sie ganz und endgiltig freigegeben zu haben, das bezieht sich wohl auch auf Ihren Mann, wie sehr wünsche ich es Ihnen beiden. Ich erinnere mich an einen Sonntag-nachmittag vor Jahren, ich schlich auf dem Franzensquai an der Hauswand hin und traf ihren Mann, der auch nicht viel großartiger mir entgegenkam, zwei Kopfschmerzen-Fachleute, jeder allerdings in seiner ganz andern Art. Ich weiß nicht mehr, ob wir dann miteinander weitergiengen oder aneinander vorüber, der Unterschied zwischen diesen beiden Möglichkeiten dürfte nicht sehr groß gewesen sein. Aber das ist vergangen und soll tief vergangen bleiben. Ist es schön bei ihnen zuhause?

                   Herzliche Grüße

                   Ihres Kafka




1] Übersetzung: Milena arbeitete an ihrer Übersetzung von Kafkas Erzählung "Der Heizer", die am 22. April 1920 in der Zeitschrift "Kmen", IV Jg., Nr. 6, S. 61-72, erschien; möglicherweise hatte sie aber auch schon mit der Übersetzung einer Auswahl von Stücken der "Betrachtung" begonnen.


2] Von Wolff... einen Brief: Es ging hier vermutlich um die Zusage Kurt Wolffs, dass sie die in seinem Verlag erschienenen Texte Kafkas ins Tschechische übertragen dürfe.


3] Eine Novelle "Mörder": Offenbar ein Mißverständnis; Milena bezog sich vermutlich auf Kafkas Erzählung "Der Mord", die im Almanach "Die neue Dichtung" (Leipzig: Kurt Wolff, 1918), S. 72-76, erschienen war.


4] Ihren Mann: Ernst Pollak (1886-1947) - ab 1938 gebrauchte er die tschechisierte Schreibung seines Namens: Polák - war seit März 1918 mit Milena verheiratet.


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at